Bis zum Ende der Welt
Straße sehen, aber das Meer wurde von einem Hügelgrat und den Apartments davor verdeckt. In der Nacht, wenn ich die Klimaanlage nicht eingeschaltet hatte, hörte ich manchmal im Halbschlaf die Lastwagen über die Straße rumpeln, und dann sackte ich wieder zurück in das Dickicht meiner Träume, in denen die Lastwagen auf die Spedition und unser Haus in Deutschland zurollten. Die Träume waren wiederkehrend, aber variierten untereinander, obwohl ich mich an die meisten gar nicht recht erinnern konnte. Immer wenn ich aufwachte, waren da nur Fetzen, Nebelschwaden, die in der Routine des Tages zerstoben.
Einen Traum kannte ich aus meiner Kindheit: Ich stehe allein auf dem leeren Parkplatz der Spedition und weiß, gleich kommt der dunkle Laster. Der dunkle Laster ist groß und laut und nicht einfach schwarz lackiert. Er ist richtig dunkel, als würde er aus Dunkler Materie bestehen. Ich fürchte mich. Außer mir auf dem Asphalt ist niemand da. Am Ende des Traums, kurz bevor ich aufwachen sollte, sah ich als kleiner Junge dann immer den dunklen Laster am anderen Ende der Straße, nahe am Horizont, doch inzwischen schien er mir um einiges näher gekommen. Es war beunruhigend: Ich war beinahe vierzig, und plötzlich suchten mich diese Träume wieder heim.
«Das kommt daher, dass jetzt bald Halbzeit ist», sagte Cabral. «Noch ein paar Wochen, und die Hälfte ist rum, statistisch gesehen.»
«Vielleicht kann ich der Statistik ja ein Schnippchen schlagen.»
«Der Statistik schon.»
«Du hast die Mitte schon hinter dir.»
«Ja, aber mir macht es weniger aus. Ich habe Angelica und die Kinder. Ich habe den Grundstock zu einem wunderschönen Verrücktenclan gelegt, ein Buschmann und eine abergläubische Katholikin, das garantiert mir gleichermaßen Paradies und heidnische Ahnenverehrung durch alle meine süßen, kleinen abergläubischen Nachkommen.»
«Wieso meinst du, dass du ins Paradies kommst?»
«Stimmt. Wieso eigentlich? Andererseits bin ich mir ziemlich sicher, dass ich nicht in die Hölle komme. Wahrscheinlich werde ich wieder irgendwo dazwischen enden, unterbezahlt, unbeachtet, ohne Aussicht auf Beförderung.» Er seufzte. «Du solltest dir auch eine Familie zulegen.» Das sagte Cabral häufig.
Und ich antwortete ebenso häufig: «Ich liebe meine Freiheit.»
«Die ist vielleicht nicht genug. Schau dir Tritão an, der hat beides verloren.» Aber wie oder warum Tritão Freiheit und Familie verloren hatte, sagte Cabral nicht.
Am Abend sah ich sie zum ersten Mal im Supermarkt. Er lag an jener Ecke, an der die Nationalstraße die Straße kreuzte, die hinauf zu meiner Apartmentanlage führte. Der Supermarkt ist Teil eines kleinen Einkaufszentrums von der Sorte, die bis um Mitternacht aufhat. Ich kam vom Spätdienst, stieß mit dem Einkaufswagen irgendetwas um, als ich sie sah. Eine Packung Müsli oder Cracker.
Sie war allein. Ich folgte ihr unbemerkt über zwei, drei Warengänge. Dabei kam ich mir albern vor, aber irgendwie wusste ich, dass ich nicht anders konnte. Sie suchte etwas, wenn auch keinen Alkohol. Vor einem Regal blieb sie stehen, stemmte die Hände in die Hüften und runzelte die Stirn.
Am nächsten Morgen erwartete mich Cabral im Büro.
«Der Hotelangestellte hat angerufen.»
«Welcher?»
«Der den Strand sauber macht.»
«Und?»
«Hat was gefunden.»
«Noch einen Finger?»
«Nein. Er wollte nicht sagen, was.»
«Drogen?»
«Wenn wir Glück haben.»
Wir hatten kein Glück. Auf den ersten Blick sah es eher so aus, als wollte sich der Angestellte nur wichtigtun.
«Vielleicht ist das ja wichtig», sagte er, nachdem er uns einen halben Kilometer den Strand entlang zu einer Stelle geführt hatte, wo der Sand vor einer schmalen, tief in den Fels geschnittenen Spalte aufhörte. «Schon komisch, aber an manchen Tagen ist es so, als ob das Meer hier den Müll der ganzen Welt anschwemmt.» Strömung und Wind hatten allerlei Unrat in die winzige Bucht gedrückt: leere Fünf-Liter-Plastikkanister, Styroporverpackungen, Getränkedosen. «Und dann muss ich das wegmachen», fügte er hinzu. «Ich hab hier schon Bierdosen aus Amerika gefunden.»
«Bierdosen aus Amerika.»
«Ja, eine Marke aus Colorado. Die gibt’s hier nicht.»
«Colorado liegt nicht am Meer», sagte Cabral.
«Vielleicht hat sich ein reicher Kerl aus Colorado sein Bier einfliegen lassen», sagte ich und schaute die Klippe hoch, «hier gibt’s eine Menge reicher Kerle.»
Der Angestellte sah mich beleidigt an. «Ja, ja,
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