Bis zum Ende der Welt
angerufen. Wir sollen erst mal Hinweise beschaffen, dass es sich um ein Kapitalverbrechen handelt. Sollte sich hingegen einer von der Müllabfuhr den Finger abgehackt haben, um bei der Versicherung zu kassieren, sei das unser Fall.»
«Was soll das denn?»
«Einsparungen. So eine Fingeruntersuchung kostet Geld. Hast du in letzter Zeit mal Nachrichten geschaut? Wir sind pleite.»
«Wir?»
«Wir alle.»
«Soll ich dir was borgen?»
«Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt.»
«Ich nicht.»
«Doch. Du hast Frauen gehabt, Yuri, und Frauen kosten Geld.»
Cabral begann, ungeduldig zu werden. «Sie holen den Finger also nicht ab?»
«Sie warten darauf, dass wir ihn von ihnen abholen lassen.»
«Wo ist denn da der Unterschied?»
«Dass wir das dann bezahlen müssen.»
«Was hast du gemacht?», wollte Cabral von Tritão wissen.
«Das Problem an höhere Stellen weitergeleitet.»
Probleme, die Tritão an «höhere Stellen» weiterleitete, wurden wahrscheinlich nie gelöst, tauchten aber auch nie wieder auf seinem Schreibtisch auf. Bisher zumindest.
Nach dem Dienst, als ich Wasser und ein Bier im Supermarkt kaufte, sah ich sie wieder. Ich richtete es so ein, dass ich an der Kasse hinter ihr stand. Ich betrachtete sie – ihr Haar, ihren Rücken, auch, na ja, ihren Hintern –, und ich schloss kurz die Augen, um etwas von ihrem Geruch aufzuschnappen. Es ist merkwürdig und dabei doch ganz normal, dass Menschen, wenn man sie nur lange genug anstarrt, spüren, dass man sie anstarrt, und sich dann umdrehen. Sie drehte sich um und sah mich in der Uniform, und ich merkte, dass sie erschrak, aber schon lächelte sie, wie um ihr Erschrecken zu überspielen. Ich war das gewohnt. Auch Menschen, die gar nichts zu verbergen haben, erschrecken, wenn sie einen Polizisten sehen, und überlegen vielleicht, ob sie nicht doch etwas zu verbergen haben.
Sie hatte Weißbrot, Käse, Wasser und einen recht teuren Wein in ihrem Einkaufswagen, und die Kassiererin, der sie einen Hundert-Euro-Schein gegeben hatte, fragte sie nach einem Fünfzig-Cent-Stück, wegen des Wechselgeldes, was sie nicht verstand. Ich sagte auf Englisch zu ihr, dass die Kassiererin gerne fünfzig Cent hätte, und als sie auch darauf nicht antwortete, sondern mich nur ansah, sagte ich das Gleiche noch einmal auf Deutsch.
«Ach so», sagte sie, kramte in ihrer Handtasche nach dem Geld und legte es der Kassiererin hin, und nachdem sie das Wechselgeld eingesteckt und den Einkaufswagen an der Kasse vorbeigeschoben hatte, drehte sie sich noch einmal um und sagte: «Vielen Dank.»
Ich sah ihr nach.
«Vier zwanzig», sagte die Verkäuferin.
Am Mittwoch hatte ich frei, und ich ging in das kleine Einkaufszentrum zum Friseur. Ich mochte den Friseur nicht sonderlich, war aber zu faul, mir einen anderen zu suchen.
Die Kunden des Friseurs waren hauptsächlich Touristen, deswegen hatte er in seinem Salon ausländische Zeitschriften liegen, vor allem englischsprachige, und weil er mich immer warten ließ, las ich meistens darin. Wahrscheinlich war das sogar der eigentliche Grund dafür, dass ich den Friseur noch nicht gewechselt hatte. Ich mochte diese Zeitschriften. Die Bilder und Artikel in fremder Sprache gefielen mir besser als fernsehen; das Fernsehen war dabei, für mich zu einer Art Drogenversion der Wirklichkeit zu werden. In den Magazinen konnte ich die Bilder lange anschauen, konnte versuchen, das, was ich sah und darüber las, mit dem, was ich dachte, zusammenzubringen. Natürlich gab es auch Schundhefte bei meinem Friseur. Regelmäßig lag dort die neueste Ausgabe einer deutschen Fernsehillustrierten, die ich bereits aus meiner Kindheit kannte. Ihre Titelseite sah immer noch genauso aus wie dreißig Jahre zuvor, als meine Mutter einem abgerissenen Mann – «einem Sträfling», wie sie meinem Vater später halb trotzig, halb entschuldigend gestand – die Tür geöffnet hatte und Abonnentin dieser Zeitschrift geworden war. Obwohl wir damals gar keinen Fernseher hatten. Der alte war kaputtgegangen, aber weil mein Vater es sich in den Kopf gesetzt hatte, nichts unversucht zu lassen, um ihn zu reparieren, schraubte er wochenlang in unserem Wohnzimmer daran herum. Die Innereien des Geräts hatten sich über den Couchtisch auf den Boden ergossen, und es sah nicht so aus, als ob jemand es wieder würde zum Leben erwecken können. Meine Mutter saß auf dem Sofa und las die Fernsehzeitschrift.
«Jetzt kommen ‹Die Leute von der Shilo Ranch›», sagte
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