Bis zum Ende der Welt
überlässt du nicht mir.»
«Fahndung.»
«Tolle Idee. Ich sehe schon die Gesichter von denen in Vila vor mir, wenn wir durchgeben: ‹Suchen schwarzen Mann in weißem Bademantel.›»
«Wir sollten noch mal mit der Frau sprechen.»
Die Frau saß im Wohnzimmer des Bungalows und hatte wieder ihre abgeklärte Miene aufgesetzt. Wir fragten sie nach dem Namen des Mannes, und sie nannte uns seinen Vornamen.
«Sie haben sich da in eine dumme Lage begeben», sagte ich zu ihr.
Sie sah mich an. Sie wusste ziemlich genau, dass auch wir uns in einer dummen Lage befanden.
«Hat er gesagt, wo er herkommt?»
«Nein.»
«Aber Sie werden ihn doch danach gefragt haben?»
«Es gibt auch Menschen, die müssen nicht die ganze Zeit reden, um sich zu verstehen. Er lag halb tot am Strand, und da habe ich ihm geholfen. Was kein Verbrechen ist. Er hat auch noch alle Finger.»
«Hat er gesagt, wie er an den Strand gekommen ist?»
Sie schüttelte den Kopf.
«Oder wo er hinwill?»
«Er ist schon da, wo er hinwollte.»
Cabral runzelte die Stirn. «Er wollte nach Sagres?»
«Er wollte», sagte sie lächelnd, «nach Europa.»
Mein Vater hatte wenig Gepäck dabei: vier saubere Hemden, zwei Hosen, Wasch- und Rasierzeug, Unterwäsche, ein paar Arbeitsschuhe. Einen Koffer, mehr nicht.
Er war in einem Dorf in der Nähe von Pombal aufgewachsen und hatte es geschafft, eine Ausbildung zum Klempner zu machen, arbeitete auch eine Zeitlang in einem Baugeschäft, bis dessen Eigentümer bankrottging. Danach schuftete er in einem Sägewerk, bis er davon hörte, dass in Deutschland Facharbeiter gesucht würden und er dort das Drei- bis Fünffache des heimatlichen Lohns erwarten könnte. So beschloss er, sein Glück in der Fremde zu suchen. Meine Mutter war nicht begeistert, und er soll eine Weile lang zwischen Gehen und Bleiben geschwankt haben. Aber als er in Coimbra den Zug bestieg und ein letztes Mal meiner Mutter zuwinkte, deren Leib dick und behäbig geworden war vom Gewicht meiner noch ungeborenen, aber bereits überschweren beiden älteren Schwestern, da lächelte er, und meine Mutter erzählte mir viel später, sie habe weder Weh- noch Wankelmut in diesem Lächeln mehr erkennen können, im Gegenteil, sie habe es sich zwar nicht eingestanden, doch sei es offensichtlich gewesen, dass mein Vater sich an diesem trüben Nachmittag in Coimbra freute. Die Freiheit, sagte sie, sei ihm ins Gesicht geschrieben gewesen.
Als Kind, Valentina, habe ich oft von dieser Fahrt meines Vaters geträumt: Ich sehe von schräg oben in das Zugabteil hinab, in dem mein Vater sitzt. Es ist, als läge ich auf der Gepäckablage, neben seinem Koffer, zwischen den Koffern der anderen, Männern wie er, die meisten jünger, einige ein wenig älter, die mit ihm auf den Holzbänken nach Osten, in die Dämmerung, fahren. Ich kann ihre Gesichter nicht sehen, aber ich höre ihre Stimmen, sie reden durcheinander, einige, um sich zu beruhigen, andere, um sich die Zeit zu vertreiben, die Zeit der Fahrt, während der mein Vater schweigend aus dem Fenster schaut, als wollte er die Landschaft in sich aufsaugen und mitnehmen für immer.
Nach drei Tagen und zwei Nächten – über die trockene Meseta unter ihrem wolkenlosen Himmel, vorbei an den Türmen von Avila und der Kathedrale von Valladolid, über die Grenze bei Irun und durch das stille, nächtliche Aquitanien und das lärmende Paris und endlich den Rhein entlang nach Norden, wo sich Wolken über den erloschenen Vulkanen der Eifel zusammenzogen – erreichte mein Vater an einem Septembermorgen 1964 zusammen mit tausend anderen, die wie er in Portugal aufgebrochen oder an der Strecke in Spanien dazugestiegen waren, als wäre die Fahrt eine Pilgerreise, eine unausgesprochene Suche nach dem Gral, ein Kreuzzug der Hoffnung auf ein besseres Leben, den Bahnhof Köln-Deutz.
Er gähnte, streckte sich, nahm seinen Koffer und trat hinaus auf den Bahnsteig. Es herrschte Verwirrung. Jeder hatte einen Vertrag in der Tasche, eine Adresse, hatte Arbeits- und Ausweispapiere. Aber wo musste man sich jetzt melden? Ihre Pässe hatte man schon kontrolliert, doch wie ging es nun weiter? Wo fuhr der Anschlusszug ab? Ein Polizist drängte zum Weitergehen, eine Frau von der Bahnhofsmission bot ihm kostenlosen Kaffee an. Einige der Männer gingen zielstrebig irgendwohin oder taten zumindest so, als hätten sie ein Ziel. Andere setzten sich einfach auf ihre Koffer und starrten müde ins Leere. Mein Vater nahm den angebotenen Kaffee
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