Bis zum Ende der Welt
und sah sich um. Der Kaffee schmeckte schrecklich. Während er noch überlegte, wo er den Becher unauffällig abstellen könnte – er wollte nicht unhöflich sein und die freundliche Frau beleidigen –, hörte er im Lautsprecher seinen Namen. Er dachte zuerst, er hätte sich verhört, denn es gab ja niemanden, der ihn hier kannte und hätte ausrufen lassen können. Doch sein Name wurde wieder und wieder von der blechernen Stimme wiederholt, desgleichen ein auf Deutsch gesprochener Befehl, den er freilich nicht verstand. Plötzlich dämmerte ihm, wer da etwas von ihm wollen könnte. Die Polizei natürlich. Vier Jahre war es nun her, dass er eine Nacht lang von der portugiesischen Geheimpolizei, der PIDE , verhört worden war. Sie hatten ihm damals vorgeworfen, er habe in einer Bar «Es lebe die Demokratie!» gerufen und dann auch noch auf die Demokratie getrunken. Was aber gar nicht stimmte: Zwei Studenten am Nachbartisch hatten das gerufen (genau in dem Moment, da er sein Glas an die Lippen führte), zwei Studenten, die er noch nicht einmal gekannt hatte. Ihm war diese kurze Episode entfallen, nicht aber der PIDE . Die PIDE vergaß nie. Langsam, in der einen Hand den miesen deutschen Filterkaffee, in der anderen seinen Koffer, ging mein Vater rückwärts. Er wollte sich unsichtbar machen und, wenn er erst einmal unsichtbar wäre, in der Menge und dann durch einen Nebenausgang verschwinden. Vor allem wollte er nicht die ganze Fahrt umsonst gemacht haben.
«Gouveia?», rief plötzlich ein Mann neben ihm, ein Zimmermann aus dem Alentejo, «das bist doch du!» Und noch andere erkannten in ihm jenen Gouveia wieder, der mit ihnen über 48 Stunden lang zusammen im Zug gesessen war, mit dem sie Brote, Wein, Würste und die Lebensgeschichten geteilt, mit dem sie gelacht und in den ersten Momenten der Sehnsucht geschwiegen hatten. Sie riefen: «Hier! Hier ist er!», und schoben ihn Richtung Haupthalle, schoben ihn auf zwei Männer zu – einen in Uniform und einen in Zivil, zweifellos zwei deutsche Geheimpolizisten, dachte mein Vater, als sie ihn am Arm nahmen, nicht grob, nicht unfreundlich, aber bestimmt und mit einem Plan (den alle Geheimpolizisten haben), und ihn mit sich weiterzogen, bis er vor einer Art Bühne stand, auf der weitere fünfzig Uniformierte ihn schon erwarteten.
Ein dicker Mann mit Zigarre im Mund ging auf meinen Vater zu und winkte, ihm auf das Podest zu folgen: Dort stand ein nagelneues, chromblitzendes Zündapp Mokick unter einem schwarzen Transparent mit der weißen Aufschrift:
DIE DEUTSCHEN ARBEITGEBERVERBÄNDE BEGRÜSSEN DEN 1 000 000 STEN GASTARBEITER !
Der dicke Zigarrenraucher drückte meinem Vater die Hand, hieb ihm auf die Schulter, lachte, und ein kleines blondes Mädchen überreichte ihm Blumen. Blitzlichter flammten auf, der Kommandeur des Kölner Polizeimusikkorps gab seinen Männern ein Zeichen, und mein Vater hörte das erste deutsche Volkslied seines Lebens:
Wem Gott will rechte Gunst erweisen,
Den schickt er in die weite Welt,
Dem will er seine Wunder weisen
In Berg und Wald und Strom und Feld.
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6
Sie lehnte am Wagen, einem alten, silberfarbenen Mercedes-Kombi, sah hinüber zum Haus und wartete. Der Wind bewegte die Bäume und ließ die letzten Blätter fallen. Sie hatte die Arme verschränkt, und ab und zu legte sie den Kopf in den Nacken und blickte zum Himmel, schloss die Augen, bevor sie blinzelte und wieder zur Tür sah.
Laska kam heraus. In seiner Hand hielt er eine grüne Reisetasche, das übrige Gepäck hatte er schon im Kofferraum verstaut. Er drehte sich um und warf noch einmal einen Blick in sein Haus, dann zog er die Tür hinter sich zu, sperrte ab und schob den Schlüssel unter die Fußmatte.
«Unter der Matte ist ganz schlechtes Versteck», sagte Anna.
Er öffnete den Kofferraum und warf die Reisetasche hinein.
«Kennt jeder», fügte sie hinzu.
Er zuckte mit den Achseln. «Was sollte man mir wegnehmen?» Er machte ihr die Tür auf, und sie stieg ein. «Ich komme nicht mehr zurück.»
Tief gurgelnd setzte sich der Wagen in Bewegung. Sie fuhren die Straße entlang, und Laska blickte stur geradeaus. Als sie an der Hauptstraße abbogen, wandte Anna sich um.
«Was ist?», fragte er. «Glaubst du, die verfolgen uns?»
«Sie denken, du hast mich rausgeschmissen.»
«Aha.»
«Weil ich dich beklaut habe.»
«Hast du ja auch.»
«Ziehst du einfach von den zwanzigtausend ab.» Sie sah wieder nach vorn. «Wir müssen noch
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