Bis zum Ende der Welt
verstanden werden kann. Deswegen mag sie, was selbst meine Schwestern überrascht, keine Telenovelas. Und deswegen mag sie auch keine Nachrichten.
«Weil die Nachrichten mittlerweile wie die Telenovelas sind», erklärte sie mir, «ich meine: Wer soll denn da noch durchblicken?»
Für sie sind wir alle Teil einer Geschichte jenseits von Radio, TV und Internet, einer Geschichte, die einen Anfang, eine Mitte und ein Ende hat und in der Vorbestimmung und Verhängnis, Schicksal, Schuld und Erlösung die treibenden Kräfte sind. «Oder», sagte sie, «um es anders auszudrücken: Gott würfelt nicht.»
Das war und ist und bleibt ihr liebster Satz. Er ist es geworden, als ich ihr mit fünfzehn die Relativitätstheorie erklären wollte und sie daraufhin eine Woche lang nicht mit mir sprach. In dieser Woche der weltanschaulichen Stille zwischen uns begann sie, populärwissenschaftliche Bücher über Einstein zu lesen, und jenes Zitat war am Ende ihre Antwort, die das Schweigen brach: Gott würfelt nicht.
Von da an führten wir regelmäßig Streitgespräche: Wenn es einen Schöpfer gab, wer hatte dann den Schöpfer geschaffen? Konnte aus nichts etwas entstehen, und wenn ja, mit welchem Ziel? Warum – Maria hin oder her – war Gott ein Mann?
«Würdest du denn gern ein Mädchen sein?», fragte mich meine Mutter misstrauisch.
Was auch immer Gott unserer Ansicht nach war, tat oder vorhatte, eine Frage blieb im Raum stehen: Welchen Sinn hatte der frühe Tod meines Vaters gehabt? Er, der sein Leben lang hart für seine Familie gearbeitet hatte, der seiner Frau treu gewesen war und seine Kinder geliebt, der niemals betrogen, gelogen, gestohlen oder auch nur seine Hand gegen irgendjemanden erhoben hatte, war dafür mit einem qualvollen Ende bestraft worden. Aber natürlich stellte ich ihr diese Frage nie.
Wenn ich sie später, nachdem ich meine Stelle bei der GNR angetreten hatte, an meinem freien Tag besuchte und sie für mich gekocht hatte, wenn ich dann satt und müde und mit einem Rest Erinnerung an meine Kindheit auf der Zunge an ihrem abgenutzten Esstisch saß, brachte ich es einfach nicht über mich, sie danach zu fragen, obwohl sie wusste, dass ich mir diese Frage schon lange stellte. Vor allem dann, wenn ich kurz zuvor wieder einmal einen Blick in die Fahndungskartei geworfen hatte, die voll war mit den Toten und Verschwundenen, deren Entführer und Mörder wir niemals finden würden.
Sie sah es mir wohl an. «Denk bloß nicht, dass du meinen Glauben prüfen kannst», sagte sie.
Ich versuchte es erst gar nicht. Stattdessen flüchtete ich mich ins große Ganze.
«Was, wenn wir nur in der Mitte sind?»
«In der Mitte wovon?»
«In der Mitte von deiner großen göttlichen Geschichte.»
«Yuri, Fernao, Liebling, was soll denn dieser Quatsch nun wieder bedeuten?»
«In jeder Telenovela gibt es am Anfang der Mitte, so zwischen Folge 200 und 300 , Figuren, die plötzlich auftauchen und hundert Folgen später wieder rausgeschrieben werden.»
«Deswegen schaue ich mir diesen Mist ja auch nicht mehr an.»
«Das Universum war bereits Milliarden Jahre alt, als die Menschen darin auftauchten.»
«Hast du immer noch diese Flausen im Kopf? Du bist fast
vierzig
! Das Universum! Kleiner geht’s wohl nicht? Allmächtiger!», rief sie aus und hob einmal mehr die Hände zum Himmel, völlig überzeugt davon, dass das Universum eine mehr oder weniger große Ansammlung physikalischer Phänomene sei, die sich letztlich der Allmacht des Schöpfers unterzuordnen habe.
«Wir werden wahrscheinlich lange vor dessen Ende, dessen
richtigem
Ende, wieder verschwunden sein. Wir sind vielleicht die Nebendarsteller, nicht die Superstars, das meine ich damit.»
«Ach, Junge», erwiderte sie und stellte den Fernseher lauter.
Das war in der Woche, bevor es passieren sollte. Auf dem Bildschirm rasten mit Flugabwehrgeschützen bestückte Pick-ups über eine Wüstenpiste. «Gott ist groß!», riefen die Männer, die auf der Ladefläche saßen und ihre Gewehre zeigten. Gaddafi hielt eine Rede. Er trug eine weiße Phantasieuniform und eine riesige Schirmmütze.
Ich ging in die Küche. Machte mir einen Kaffee. Als ich das Blubbern und Röcheln im Kaffeebereiter hörte, suchte ich im Schrank nach einer Tasse. Das heißt, ich tastete danach, während ich aus dem Küchenfenster blickte, über die Dächer von Odivelas. Es war das letzte Mal, dass ich meine Mutter dort allein zum Mittagessen besuchte, aber das wusste ich natürlich nicht.
Was soll
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