Bis zum Ende der Welt
den ich mit der Guarda eingegangen war, ohne dass man dort davon gewusst hätte.
Nur einmal in meinem Leben bin ich ein Deutscher gewesen. Ein hundertprozentiger Deutscher – so deutsch, wie man es nur als Deutscher sein kann. Ironischerweise widerfuhr mir dieser kurze Moment echten Deutschtums auf unserer Heimfahrt nach Portugal, kurz nachdem wir Deutschland und der Kleisterfabrik für immer den Rücken gekehrt hatten.
Weil mein Vater Geld sparen wollte, fuhren wir nicht auf der Autobahn, wo man uns für den übergroßen Katastrophen-Ford vermutlich Lkw-Gebühren abgenommen hätte. Auf der Landstraße zuckelten wir quer durch Frankreich. Ich bekam, wie gesagt, wenig davon mit. Irgendwann fing meine irgendwo neben mir vom Hausrat eingemauerte Schwester an zu jammern. Sie müsse auf die Toilette. Mein Vater fragte, ob sie es nicht wenigstens noch bis hinter Bordeaux aushalten könne. Konnte sie nicht.
Wir hielten in einem kleinen Dorf vor einem etwas heruntergekommenen Café an einer Kurve. Auf dem Parkplatz daneben stand ein Lkw, und auf einem Schild wurden in mehreren Sprachen belegte Baguettes angepriesen. Wahrscheinlich glaubte man, so den einen oder anderen Fernfahrer, der die Nationalstraße nach Süden nahm, hineinlocken zu können. Ich schaute zu dem Lkw und hatte plötzlich die wilde Hoffnung, wir könnten hier einen der Fahrer aus der Spedition treffen. Aber der Lkw kam aus Frankreich.
Ein schmaler Bach floss jenseits der Straße, und vor einem der niedrigen Häuser liefen hinter einem Drahtzaun Hühner herum, die zuckend zu uns herübersahen, als wir alle aus dem vollgepackten Fahrzeug stiegen. Meine Familie – meine zwei Schwestern, meine Mutter, mein Vater – bewegte sich auf den Eingang des Cafés zu, und da ich zurückblieb, drehte mein Vater sich zu mir um. «Musst du nicht auch mal?» Ich schüttelte den Kopf. «Aber wehe, wenn dir in fünfzig Kilometern einfällt, dass du doch musst!», rief er, und schon waren sie alle vier in dem dunklen Eingang des Lokals verschwunden.
Ich gähnte und streckte mich, dann lief ich etwas hin und her. Schließlich setzte ich mich auf einen der verlassenen Stühle, die vor dem Café standen. Ich blickte die Straße hinunter, in die Richtung, in die wir gleich weiterfahren würden, und so bemerkte ich die Frau nicht sofort, die sich von der anderen Seite näherte.
Erst als ich das kratzende, quietschende Geräusch hörte, wandte ich mich um.
Sie zog einen stoffbezogenen einachsigen Handkarren hinter sich her, wie ihn ältere Menschen zum Einkaufen benutzen. Es war schwer zu sagen, wie alt sie war – fünfzig, sechzig, siebzig? Sie trug ein gelb gemustertes Kleid, eine Art Kittelschürze, und eine graue Strickjacke darüber. Sie war dick – ihre Haut faltig, rosig, schwabbelig, ihr Gesicht irgendwie konturlos. (Tatsächlich kann ich mich nicht an das Gesicht erinnern.) Schnaufend stand sie neben dem Ford und starrte ihn an. Auf der Hecktür war von dem ursprünglichen Schriftzug «Katastrophenschutz» bloß noch das Wort «Schutz» zu erkennen. Lange betrachtete sie es. Ich dachte mir nichts dabei, glaubte, sie wolle sich nur ausruhen. Bis sie herumschnellte und mir mit stechendem Blick in die Augen sah. Sie deutete auf das Autokennzeichen. «Deutsch?», fragte sie mich.
Was hätte ich sagen sollen? Ja? Nein? Jein? Ich war mal deutsch, aber jetzt bin ich es nicht mehr? Eigentlich bin ich Portugiese, aber in Deutschland geboren? Meine Schulkameraden haben mich Knoblauchfresser genannt? Mein Portugiesisch hört sich an, wie wenn ein Deutscher mit vollem Mund Holländisch spricht? Das schien mir alles zu kompliziert, und so nickte ich einfach nur.
Ihr Blick wanderte zum Nummernschild und dann zurück zu mir. Ihre Augen und auch ihr Mund wirkten plötzlich so hasserfüllt, dass ich Angst bekam. Ich fürchtete, sie würde gleich auf mich losgehen. Aber das tat sie nicht. Sie krempelte nur den linken Ärmel ihrer Jacke hoch und hielt mir ihren nackten Unterarm hin.
Ich hatte schon mehr als einmal eine Tätowierung gesehen: bei den Fernfahrern der Spedition, die mir ihre Hautmalerei bereitwillig und oft gezeigt hatten. Anker, gekreuzte Säbel, barbusige Frauen, unter denen die häufig falsch geschriebenen oder unleserlichen Namen einer lange schon verlorenen Liebe standen.
Auf dem Unterarm der Frau erkannte ich nur eine Nummer. Eine blaue, eintätowierte Nummer. Ich starrte die Nummer an, dann die Frau. Ihr Blick schien jetzt nicht mehr wütend, nicht mehr
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