Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bis zum Ende der Welt

Bis zum Ende der Welt

Titel: Bis zum Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Zähringer
Vom Netzwerk:
ich sagen – eine Tasse fiel mir herunter. Sie zerschellte auf dem Küchenboden. Der Küchenschrank meiner Mutter barg ein Sammelsurium von Tassen, die irgendwann einmal zu ihr gefunden hatten. Die Tasse auf dem Boden war recht alt. 1984 stand darauf. Eine anlässlich der FußballEuropameisterschaft 1984 in Frankreich hergestellte Tasse. Da hatte Platini uns Portugiesen in der letzten Minute aus dem Finale geschossen. Mir fiel wieder ein, wie wir fiebernd vor dem Fernseher gesessen hatten, meine Mutter mit der Tasse in der Hand, die Knöchel ihrer Hand weiß und der Sieg im Halbfinale so greifbar nah, dass wir bereits insgeheim vom Gewinn der Europameisterschaft träumten. Aber dann traf Platini in der letzten Minute der Verlängerung den Ball, so wie ihn nur Platini treffen konnte.
    Ich sehe den großen Platini noch vor mir, wie er jubelnd durch das Stadion rannte und sich sein Ebenbild in unseren weit aufgerissenen, traurigen Augen spiegelte.
    In den Tagen, die darauf folgten, hatte ich mich leer und ohne Antrieb gefühlt. Ich wollte nicht zur Schule gehen. Irgendwann kam mein Vater, legte mir seine Hand auf die Schulter und sagt: «Es war doch nur ein Spiel, Yuri. Es gibt Schlimmeres.»
    «Ist was passiert?», rief meine Mutter aus dem Wohnzimmer.
    «Mir ist eine Tasse runtergefallen.»
    «Es gibt Schlimmeres», rief sie zurück, ohne den Fernseher leiser zu stellen, «lass es einfach liegen, ich mach es später weg.»
    «Nein», rief ich, nahm den Handfeger und schob die Scherben auf die Kehrichtschaufel.
    Alles verschwindet irgendwann, aber das ist nicht das Problem. Das Problem ist, dass bis dahin alles eine Geschichte hat. Selbst eine Tasse.

[zur Inhaltsübersicht]
    9
    Die Bücher in Laskas Bibliothek waren nur grob geordnet. Einen Teil der Regale füllten Nachschlagewerke und Sternkarten, Atlanten und umfangreiche Fotobände. Es gab eine Ecke mit den Biographien und Lebenserinnerungen bedeutender Astronomen und Kometenjäger – Tempel, Tuttle, Halley, Ikeya, Seki, Shoemaker, Levy, viele Namen hatte sie noch nie gehört. An der Pädagogischen Hochschule hatte sie Astronomie als Nebenfach belegt, weil ihre Großmutter ihr dazu geraten und ihre Mutter sie dazu gedrängt hatte. Sie selbst hatte noch den Rest einer sentimentalen Erinnerung an jene unschuldige Zeit in sich bewahrt, als es für sie etwas Aufregendes gewesen war, mit ihrem Großvater durch die Nacht zu wandern und am Firmament die Sternbilder zu bestimmen. Doch als sie an die Universität ging, war sie gerade achtzehn geworden, und bald vergaß sie die hehren Vorsätze, mit denen sie sich eingeschrieben hatte.
    Sie fing mit «Meyers Handbuch über das Weltall» an, machte weiter mit dem «Planetenlexikon» und einer «Einführung in die Kosmologie». Wollte sie Laska etwas beweisen oder einfach nur Versäumtes nachholen, die verlorene Zeit zurückgewinnen? Oder wollte sie sich die Stunden vertreiben, sich beschäftigen bis zum Tag von Laskas Tod? Am Anfang hatte sie sich auszumalen versucht, was sie mit dem Geld von ihm anfangen würde, aber ihr war nichts in den Sinn gekommen außer dem ihr unwirklich vorkommenden Gedanken, dass sie damit tatsächlich würde machen können, was sie wollte.
    Tagsüber las sie in der Bibliothek oder auf einem Liegestuhl am verwaisten Pool. Laska wusste nicht so recht, was er davon halten sollte.
    «Du liest», stellte er fest.
    «Nein», antwortete sie, ohne aufzuschauen, «sieht nur so aus. Ich schaue mir die Bildchen an.»
    Manchmal sprach sie mit ihm über den Inhalt eines Buches, etwa über die Theorie, dass das Universum sich ausdehne, von jedem Ort aus, in alle Richtungen, dass es kein Zentrum gebe, genauso wenig wie für einen Käfer, der auf der Oberfläche eines Luftballons herumlaufe, und dass wir (die Käfer, die Galaxien), ohne es zu merken, uns immer weiter und – wie sich inzwischen herausgestellt habe – sogar immer schneller voneinander entfernten.
    Ja, bestätigte Laska, das habe vielleicht wenig Tröstendes an sich, sei aber nicht zu ändern. Man kenne den Anfang nicht und nicht das Ende, «von unserem eigenen mal abgesehen».
    «Bist du dir da sicher?»
    «Da bin ich mir ziemlich sicher.»
    «Du weißt also genau, wie du stirbst? Was, wenn du vorher von einem Auto überfahren wirst oder so was? Dann ist dein ganzer Sterbensplan für die Katze.»
    «Weil hier ja so viele rumfahren, die mich überfahren könnten.»
    «Wie meine Großmutter immer hat gesagt: Es muss nur der Richtige kommen. Wie

Weitere Kostenlose Bücher