Bis zum Ende der Welt
fühlst du dich?»
«Gut.»
«Wirklich?»
«Ja.»
«Ich glaube dir nicht.»
Er stutzte. «Und? Soll ich jetzt vielleicht Gymnastik machen?»
«Ja. Zum Beispiel.»
Sie saßen beim Frühstück. Milchkaffee, der Duft der Pastéis de nata. Draußen ein Vogel, der ein Geräusch von sich gab, das Anna noch nie gehört hatte.
«Du willst, dass ich Gymnastik mache?»
«Wenn du willst, dass ich dir glaube.»
Er stand auf, trat neben den Tisch und machte Liegestütze. Dann setzte er sich wieder. Sein Atem ging etwas schneller, aber das war schon alles. «Siehst du? Glaubst du mir jetzt? Es geht mir gut.»
«Also, ich weiß jetzt nicht mehr, was ich glauben soll.» Sie nippte an ihrem Kaffee. «Vielleicht haben sich die Ärzte geirrt.»
«Nein, haben sie nicht.»
«Es geht dir gut. Du hast vor einem Mädchen aus Kiew Liegestütze gemacht. Was ziemlich komisch aussah. Aber Leute, die bald sterben, sind nicht komisch. Das heißt, du bist gar nicht krank.»
«Die Ärzte haben sich nicht geirrt. Das ist immer das Erste, was die Patienten denken. Sie denken, dass die Ärzte sich geirrt haben, weil vielleicht Untersuchungsergebnisse verwechselt wurden, und dann rennen sie zum nächsten und zum übernächsten, aber die Ergebnisse bleiben immer gleich.»
Sie zuckte mit den Achseln. «Du kannst immer noch vorher von einem Auto überfahren werden.»
«Unwahrscheinlich.»
Sie sah aus dem offenen Fenster. Dunst lag über den abfallenden Hügeln. In der Ferne verschwammen die See und der Himmel zu einem einzigen Hellblau. «Oder es gibt ein Erdbeben.»
«Hier hat die Erde seit dem achtzehnten Jahrhundert nicht mehr gebebt.»
«Na ja, eben.»
Sie hatte es eigentlich aufgegeben, im Haus nach Spuren von Laskas Vergangenheit zu suchen, bis ihr eines Nachmittags eine Tür auffiel: eine schmale, aber stabile Stahltür, die neben der Terrasse in die Außenwand des Hauses eingelassen war. Zwei Treppenstufen führten zu ihr hinab.
«Wo geht es da hin?», fragte sie Laska.
«Zum Keller.»
«Es gibt einen Keller?»
«Keinen richtigen», wich Laska aus. «Ich wollte eine Öl-heizung einbauen, aber ich habe es dann gelassen.»
«Und was ist jetzt dadrin?»
Er blickte sie ruhig an. «Nichts.»
Abends konnte sie es kaum erwarten, dass es dunkel wurde und sie sich wieder im Observatorium ans Teleskop setzen konnte. Sie begann methodischer vorzugehen, indem sie den Himmel in Abschnitte aufteilte und sich noch vor der Dämmerung eine Liste machte, wonach sie in der Nacht suchen wollte. Sie fing ein Beobachtungstagebuch an und führte es mit einer solchen Akribie, dass sie ein wenig vor sich selbst erschrak.
Jede Nacht bot neue Entdeckungen – veränderliche Sterne, Sternhaufen, weit entfernte, riesige Galaxien oder auch den Schatten eines vorbeiziehenden Mondes auf den Wolkenbändern des Jupiter. Mit dem Auge am Okular und vollkommen reglos (damit jede unnötige Vibration des Instruments vermieden wurde) auf dem Hocker zu sitzen bedeutete, unterwegs zu sein auf einer großen Reise. Es war, als wäre sie auf einen dahinrasenden Zug aufgesprungen, ohne zu wissen, wohin er fuhr. Als wäre sie unbemerkt in ein anderes Leben hineingeraten. Als hätte ein verborgener Teil in ihr die Kontrolle übernommen. Wo war die Anna, die in den Clubs bis zum Morgengrauen getanzt hatte? Aber so, wie man den Halt verlieren kann, dachte sie, kann man ihn vielleicht auch wiederfinden, und so, wie man war, ist man vielleicht nie gewesen.
Laska wurde Annas Eifer unheimlich. «Willst du nicht ins Bett gehen?», fragte er eines Nachts, «es ist schon halb drei.»
«Die beste Zeit», sagte sie.
«Es ist kühl geworden, frierst du nicht?» Er zog seine Windjacke aus, legte sie ihr über die Schultern.
Sie murmelte einen Dank und schlüpfte hinein. «Wir hätten zwei kaufen sollen», sagte sie.
«Konnte ja keiner vorhersehen», erwiderte er. Dann blieb er noch einen Moment an der Tür des Observatoriums stehen, bevor er ihr eine gute Nacht wünschte und ging.
Sie ahnte, dass jede Minute nur geliehen war. Dass die Reise zu einem Ende kommen würde, sie nur noch nicht wusste, welches es sein könnte. Während Laska die Zeit beharrlich zu ignorieren schien, wurde ihr mit jeder Nacht klarer, dass die Uhr tickte. Etwas würde passieren – oder war schon längst passiert, um sie wie der Blitz einer entfernten Supernova eines späteren Tages zu treffen.
Tagsüber half sie Laska bei der Auswertung seiner nächtlichen Aufnahmen. Er hatte ein
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