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Bis zum Ende der Welt

Bis zum Ende der Welt

Titel: Bis zum Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Zähringer
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Mädchen versuchte, sich im Kinderwagen auf den Bauch zu drehen und hochzustemmen, aber die Mutter wollte es jedes Mal wieder zurückdrehen. Irgendwann ließ sie es gewähren, doch nur so lange, bis ihr Mann erschien und eine Diskussion darüber begann, ob es gut sei, dass das Kind sich hochstemme und ins Hohlkreuz gerate, ja eventuell aus dem Kinderwagen falle oder auch nur Dinge sehen könne, die es, um seiner Zukunft willen, besser noch nicht sehen solle.
    Die meiste Zeit aber bekamen sie von den Nachbarn nicht mehr mit als ein gelegentliches Rufen, ein Lachen oder manchmal am Abend die Titelmelodie einer Fernsehserie. Laska hatte, wie er gestand, sich ausgebeten, dass die Bewohner der umliegenden Häuser doch nachts in ihren Gärten möglichst wenig Licht scheinen ließen, und aus unterschiedlichen Gründen hielten sie sich auch daran. Das betagte britische Ehepaar ging früh zu Bett, das Haus des Holländers stand meistens leer, und der dicke Golfplatzkonstrukteur ließ bereits tagsüber die Jalousien herunter, sodass sich am Abend gar kein Licht zeigte, sah man einmal von seinen an der Gartenmauer postierten Halogenstrahlern ab, die immer dann aufschienen, wenn ein wildes Tier in den Bannkreis der Bewegungsmelder geriet.
    «Ich habe versucht, ihm das auszureden», sagte Laska, «aber er hat gar nicht zugehört. Hat wohl Angst vor Einbrüchen.»
    «Vielleicht verbirgt er etwas?»
    «Ja, wahrscheinlich ein paar Golflöcher.»
    «Kennst du die Geschichte von Miss Popo?»
    «Miss wer?»
    «Ukrainische Schönheitskönigin. Na ja, vom Hals abwärts.»
    «Was ist mit der?»
    «Das ist so eine Geschichte wie die von Krokodilen im Kanal. Miss Popo hat einen Mann in Portugal geheiratet und dann in seinem Keller in der Kühltruhe zerstückelte Frauen gefunden.»
    Laska sah sie überrascht an. «Quatsch.»
    «Doch, ich hab’s von einem, der einen kennt, der einen kennt, der mal mit ihr rumgemacht hat, und der schwört, genau so sei’s gewesen, aber man konnte dem Mann nichts nachweisen, weil er die Beweise hat verschwinden lassen.»
    «Also, der Mann da drüben hat ein Problem, aber nicht so eines.»
    «Woher willst du das wissen? Hast du die Frau noch mal gesehen?»
    «Da sie ja anscheinend weggelaufen ist, habe ich sie natürlich nicht noch mal gesehen. Obwohl sie nicht weggelaufen ist, sondern ein Taxi genommen hat.
Das
habe ich gesehen.»
     
    Für gewöhnlich stand er vor ihr auf. Wenn sie die Treppe hinunterkam, saß er bereits am Tisch, und es roch nach Kaffee, und er lächelte kurz, und sie lächelte zurück.
    Das war früher auch so, dachte sie, früher, als sie noch in die Schule gegangen war und ihre Mutter vor dem Morgengrauen hatte aufstehen müssen, um ihr den Tee und das Butterbrot hinzustellen, und auch noch etwas später war es so, als sie beide bei ihren Großeltern gewohnt hatten, wo ihr Großvater, immer wenn ihre Mutter ungeduldig nach ihr rief und mahnte, es sei Zeit, höchste Zeit, sonst bleibe keine Viertelstunde mehr, vor der Schule etwas zu trinken und zu essen, hinter ihr die Treppe hinunterkam mit diesem Lachen, das den Tag, das eigentlich das ganze Leben retten konnte, von dem er in diesem Moment behauptete, es sei mehr als ein Butterbrot, «das Leben ist mehr als ein Butterbrot», sagte er, und dann sagte ihre Mutter: «Aber mit einem Butterbrot fängt der Tag an.» Ohne es zu wollen, musste sie plötzlich wieder an ihre Mutter denken, an die Wochen, in denen sie zu einem Schatten geworden war, der beinahe durchsichtig auf dem weißen Krankenbett gelegen hatte. Eine nie eingestandene Wut war in ihr aufgestiegen, weil ihre Mutter nach jedem Abend, wenn die Besuchszeit vorüber war und Anna sich im Stillen für immer von ihr verabschiedet hatte, am nächsten Tag immer noch da war, sodass sie damals Angst bekam, der unerträgliche Schmerz des Abschieds könnte niemals –
    «Ist was?», fragte Laska. «Stimmt was nicht?»
    Sie sah durch Laska hindurch. «Wo ist dein Sohn?»
    «Woran hast du gerade gedacht?»
    «An meine Mutter und an die Zeit morgens und daran, dass ich nicht bei ihr war, als sie starb.»
    «Mein Sohn war bei seiner Mutter, als sie starb.»
     
    Eines Nachts, in der Wolken wie eine Horde schwarzer Reiter oder eine Armada von Geisterschiffen vom ablandigen Wind vor den platinhellen Vollmond und weiter in die Dunkelheit getrieben wurden, lag sie wach und starrte minutenlang in die formlose, fremde Finsternis ihres Zimmers, bevor sie aufstand und leise, wie eine Diebin, hinaus in

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