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Bis zum Ende der Welt

Bis zum Ende der Welt

Titel: Bis zum Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Zähringer
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man damit vom Liegestuhl aus.»
    «Dann sollten wir das tun.»
    Den Rest der Weihnacht verbrachten sie in Decken gehüllt auf der Terrasse und beobachteten die Milchstraße. Irgendwann begann sie müde zu werden, und nachdem sie ihm das Fernglas gereicht hatte, legte sie ihre Hand auf seinen Arm. «Ich habe kein Geschenk für dich.»
    «Was soll ich denn jetzt noch mit Geschenken.»
     
    Zum Jahreswechsel mieteten sich im Nachbarhaus sechs junge Deutsche ein – vier Männer und zwei Frauen. Irgendjemand hatte ihnen erzählt, dass sich hier, auf dem Hügel mit seinen vier einsamen Villen, der Treffpunkt aller Raver der Algarve befinde.
    «Wisst ihr, wo hier was los ist?», fragte eine der Frauen Anna und Laska, als sie gerade von einem Ausflug ans Meer zurückgekommen waren.
    Laska hantierte an der Heckklappe des Mercedes und drehte sich um. Die Frau war gar nicht mehr so jung, vielleicht Anfang dreißig. Sie hatte einen kurzen braunen Rock an und war für das windige Wetter zu leicht angezogen. Neben ihr stand ein schmächtiger Mann mit schwarzen Haaren, die an den Schläfen grau wurden. Er trug eine Sonnenbrille und dicke, geschlossene Kopfhörer, wackelte hin und her.
    Als Laska nicht antwortete, wandte sich die Frau Anna zu. «Die haben uns beschissen, stimmt’s?»
    Anna deutete ein Nicken an.
    «Hier ist nichts los», klagte die Frau, «ich hab’s ja gleich gesagt.»
    «Häh?», schrie der Mann mit den Kopfhörern.
    Sie beugte sich zu ihm hinunter: «Nichts los! Tote Hose!»
    «Tote Hosen?!»
    «Die haben uns im Reisebüro beschissen, Rudi!»
    Der Mann, der Rudi hieß, nickte verzagt, und dann wackelte er neben der Frau zurück zum Haus, um den anderen die traurige Nachricht zu überbringen.
    Am Silvesterabend fuhren die sechs Deutschen in ihrem gemieteten Minivan um neun Uhr den Hügel hinunter, kamen aber kurz vor Mitternacht schon wieder zurück. Auch der Club, den sie schließlich ausgekundschaftet hatten, hatte sich offenbar als Flop erwiesen. Anna und Laska saßen auf der Terrasse und konnten sie durch die Hecke zum Nachbargrundstück sehen. Alle trugen Kopfhörer und tanzten zu einer unhörbaren Musik. Als über der Küste das Feuerwerk losging, kam Rudi an die Hecke, stellte sich auf einen Stuhl, sodass man gerade seinen Kopf samt Kopfhörern sehen konnte, und rief: «Frohes neues Jahr! Glück! Ein langes Leben!»
    Laska hob sein Glas, und Anna winkte, und dann stieg Rudi wieder vom Stuhl, und Laska drehte sich, immer noch das Glas erhoben, zu Anna und sagte förmlich wie ein Gardeoffizier: «Alles Gute fürs neue Jahr.»
    Sie sagte nichts, sondern umarmte ihn und spürte dabei, wie er ganz steif wurde, als wollte er sich in ein Stück Holz verwandeln.
     
    Es geschah an einem trüben Vormittag. Laska war beim Arzt, sie hatte gerade ein Buch über die Geschichte der Urknall-Theorie gelesen und spazierte durch den Garten. Im Haus nebenan hatte sich wieder eine deutsche Familie mit einem kleinen Kind eingemietet, einem vielleicht vierjährigen Jungen, der klettern und Purzelbäume schlagen konnte, aber von seinen Eltern ständig auf alle möglichen Gefahren, die der Garten bot, aufmerksam gemacht oder, selbst gegen seinen Willen, vor ihnen bewahrt wurde. Sie hatte den Ermahnungen (nicht von den Pflanzen essen, die Kappe auch bei bewölktem Himmel tragen) eine Zeitlang gelauscht, als sie plötzlich wieder vor der Stahltür zum Heizungskeller stand und sich ebenso plötzlich dazu entschloss, sie zu öffnen.
    Es war reine Neugierde. Sie kannte jetzt jeden Winkel des Hauses, bis auf diesen letzten, der hinter der Stahltür lag. Sie war verschlossen, natürlich, aber Anna erinnerte sich an die Schublade eines Schrankes im Wohnzimmer, in der Laska Krimskrams aufbewahrte, eine Schublade, wie sie jeder irgendwo hat, mit alten Batterien, Einwegfeuerzeugen, stehengebliebenen Uhren, abgelaufenen Parkscheinen, Knöpfen, kaputten Kugelschreibern und eben Schlüsseln, Schlüsseln aller Form und Größe, für die es längst kein Schloss mehr gab oder deren Schlösser vergessen worden waren.
    Fast eine halbe Stunde dauerte es, bis sie alle durchprobiert hatte, und sie wollte schon aufgeben, als sie einen Schlüssel fand, der perfekt in das Schloss zu passen schien. Zunächst bewegte er sich nicht, als wäre die Schließmechanik innen eingerostet. Aber dann, nach sanftem Ruckeln, machte es klack!, und die Tür war offen.
    Ein süßlicher, abgestandener Geruch schlug ihr aus der Dunkelheit entgegen, als sie eintrat. Sie

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