Bis zum Ende der Welt
gesessen und alles auf eine Zahl gesetzt.
Warum ich das alles erzähle? Der Psychologe hat gesagt, ich solle alles aufschreiben, was mir einfällt, und meine Erzählung an einen geliebten Menschen richten, es sei einfacher, wenn man ein Gegenüber habe, einen Zuhörer, einen Leser, dem man vertraue und für den die Geschichte bestimmt sei. Also erzähle ich sie dir, Valentina, auch wenn du das meiste davon nie erfahren wirst. Wo ich anfangen solle, habe ich den Psychologen gefragt, bei Adam und Eva?
«Fangen Sie dort an, wo Sie meinen, dass die Geschichte angefangen hat, fangen Sie bei Ihrer ersten Erinnerung an.»
«Und später – soll ich auch das aufschreiben, was da passiert ist?»
«Gerade das.»
«Obwohl das doch alles schon im offiziellen Bericht steht?»
«Beschreiben Sie es nicht, wie es im Bericht steht. Versuchen Sie, Ihre eigenen Worte dafür zu finden», sagte er.
Also gut.
Am Ende ging alles sehr schnell. Fokussierte sich auf Tage, wenige Stunden, einen Augenblick. Es ist merkwürdig, aber im Grunde genommen hatte ich jahrelang darauf gewartet, dass etwas passierte, hatte gehofft, dass etwas oder irgendjemand den Knoten meines Lebens durchschnitt. In knapp einem Monat sollte ich vierzig Jahre alt werden, ich hatte keine Frau, keine Kinder, war lediglich der Onkel der verzogenen Gören meiner beiden Schwestern. Ich war ein Gastarbeiterjunge in Deutschland gewesen und bin in Portugal Provinzpolizist geworden, und es sah ziemlich danach aus, als ob es das schon gewesen wäre. In dem Monat, bevor das alles geschah, hatte ich mit unserer neuen Kommandantin geschlafen, und als sie aufstand, sich ihre Uniform anzog und mich ansah, sagte sie zu mir, ich solle mich nicht in sie verlieben (was ich gar nicht vorhatte). Neben dem Bett lag ihr Hund, er hatte immer noch seine Schnauze auf seiner linken Vorderpfote liegen, und auch wenn er weder einen Mucks gemacht noch aufgeschaut hatte, während wir es im Bett über ihm trieben, hatte es mich schon irgendwie irritiert, dass er dort lag.
Sie steckte sich eine Zigarette an und ich mir auch eine, und ich fragte auf diese lässige Art, die mittelalte Erwachsene so an sich haben, nachdem sie miteinander im Bett gewesen sind, warum ich mich nicht in sie verlieben solle.
Sie antwortete:
«Du siehst gut aus, aber du bist ein Träumer. Du hast keine Zukunft, Gouveia.»
Am 11 . März 2011 , ich war gerade aufgestanden, putzte ich mir die Zähne und schaltete, die Zahnbürste noch im Mund, den Fernseher ein. Es hatte ein Erdbeben gegeben. In Japan.
Als 1755 das große Erdbeben Lissabon zerstört hatte, dauerte es Tage, ja Wochen, bis der Rest der Welt von der Katastrophe erfuhr. Am 1 . November, dem Tag des Bebens, rollten meterhohe Flutwellen auf die europäischen Ufer zu, selbst vor der englischen Steilküste türmte sich das Wasser drei Meter hoch. Die Menschen ahnten, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Was genau, wussten sie nicht.
Das war jetzt anders: Über den Bildschirm huschten bereits die ersten wackeligen Filme, man sah Autos, die von tosenden braunen Wassermassen wie Spielzeug durch die Trümmer einer mir unbekannten Stadt gewirbelt wurden. Ich putzte mir an diesem Morgen sehr lange die Zähne, wahrscheinlich zum ersten Mal im Leben länger, als man es gesunder Zähne zuliebe machen soll.
Nach den Bildern aus Japan kamen, wie schon in der Woche zuvor, die aus der Wüste: Männer auf Pick-ups, die mit ihren Kalaschnikows in die Luft ballerten und dazu «Gott ist groß» riefen.
Wenn ich an etwas Derartiges glauben würde, Valentina, dann würde ich diesen 11 . März wohl als einen Schicksalstag bezeichnen. Betrachtet man es nämlich genauer, folgt man der Geschichte nur etwas weiter in die Vergangenheit zurück, verdankst du diesem Tag dein Leben.
Aber es ist wie mit den Sauriern und dem Asteroiden – alles passiert irgendwann zum ersten und alles zum letzten Mal.
Nach den Nachrichten ging ich wieder ins Bad, spülte mir endlich den Mund aus, stellte mich unter die Dusche und ließ das heiße Wasser über meinen Rücken laufen. Danach zog ich mich an, trank einen Kaffee und verließ die Wohnung. Ich fuhr, wie gewöhnlich, mit meinem Wagen zum Dienst.
Zwei leichte Verkehrsunfälle, ein Einbruch, eine Anzeige wegen unsittlichen Benehmens in der Öffentlichkeit, drei sturzbetrunkene, randalierende Finnen – es war ein ruhiger Freitag, zumindest für uns. In unserer Polizeistation hing immer noch das Fahndungsfoto von
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