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Bis zum Ende der Welt

Bis zum Ende der Welt

Titel: Bis zum Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Zähringer
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Krankheit oder durch Nebenwirkungen des Medikaments, dann muss er noch andere Tabletten nehmen, natürlich auch, wenn er plötzlich große Schmerzen hat oder starke Stimmungsschwankungen auftreten – Depressionen, Unruhe, Wutanfälle. Darum sollten Sie das hier parat haben.» Er notierte die Namen der einzelnen Mittel auf den Zettel. «Ich habe die Rezepte dafür bereits ausgestellt, aber ich schreibe es Ihnen hier noch einmal genau auf, kann sein, dass Sie sich im Notfall darum kümmern müssen.»
    «Was sind das für Nebenwirkungen, die auftreten können?»
    «Die häufigsten sind Übelkeit, Müdigkeit, Schwindel, leichte Kopfschmerzen.»
    «Und die nicht so häufigen?»
    «Schweres Erbrechen, Desorientierung, Sehstörungen, starke Kopfschmerzen, Halluzinationen, Ohnmacht.»
    «Und was mache ich dann?»
    Winther verzog das Gesicht. «Wie gesagt: diese Tabletten geben, und wenn es wirklich schlimm kommt, können Sie mich auch anrufen.» Er betrachtete sie und seufzte wieder. «Sie wollen wissen, ob es das alles wert ist und wie viel Zeit ihm das verschafft, stimmt’s?»
    «In Berlin haben die Ärzte gesagt, er hätte noch sechs Monate, davon sind vier jetzt um.»
    «Ja, das war auch korrekt, das ist die mittlere Überlebensrate – statistisch gesehen. Wie ich bereits sagte: Niemand weiß, wie lange es noch geht. Wenn die Therapie anschlägt, hat er vielleicht noch drei, vier, fünf Monate mehr. Es kann auch sein, dass sich gar nichts bessert. Dann ist es in zwei Monaten vorbei. Apropos …» Wieder ließ er den Kugelschreiber klicken. «Da er ja partout nicht ins Krankenhaus will, werden Sie früher oder später einen Pflegedienst brauchen.» Er kritzelte drei Namen und Telefonnummern auf den Block. Dann lehnte er sich zurück. «Es gibt viele Arten, wie Menschen mit so einer Diagnose umgehen. Manche fallen in hektische Betriebsamkeit, wollen auf einmal alles nachholen, was sie versäumt zu haben glauben, andere bemitleiden sich selbst, werden religiös, gleichgültig oder zynisch, wieder andere beschließen zu kämpfen und versuchen es mit jeder Therapie, die es gibt, auch wenn sie vom letzten Quacksalber stammt. Und dann gibt es noch den Typus Patient, und ich glaube, Ihr … also, er gehört dazu, die wollen alles einfach ignorieren. Das sind diejenigen, die noch an ihrem letzten Tag sagen: ‹Mir geht es gut, mach dir keine Sorgen, ich bin nur etwas müde.› Lassen Sie sich nicht täuschen. Er wird nicht mehr gesund. Etwas mehr Zeit, das schon. Heilung? Nein. Wenn es irgendetwas Unausgesprochenes gibt, wenn es etwas gibt, das noch getan oder erlebt werden muss, dann warten Sie nicht zu lange damit.»
    Die Zwergin kam herunter. «Alles gelaufen. Muss jetzt Ruhe», sagte sie zu Anna, «halbe Stund’ liegen Bett.»
    Winther stand auf. «Leben Sie wohl», sagte er und schüttelte Anna die Hand.
    Die nächste halbe Stunde saß sie beinahe reglos auf dem Sofa und sah auf die weiß getünchte Wand. Viele Dinge gingen ihr durch den Kopf, Erinnerungen stürzten auf sie ein, Bilder, die sie lange vergessen hatte, aber nach einer Weile war ihr Geist wie leergefegt. Nur eine Frage stellte sie sich: ob es nicht besser wäre, jetzt einfach aufzustehen und zu gehen? Der Erklärungen des Arztes hätte es nicht bedurft. Sie hatte das alles schon einmal erlebt. Hatte zugeschaut, wochen-, monatelang. Sie erinnerte sich gar nicht mehr genau daran, was sie in dieser Zeit eigentlich getan hatte, außer am Bett ihrer Mutter zu sitzen, aber sie erinnerte sich an die Gefühle – die Verzweiflung, die Hoffnungslosigkeit, die Wut. Hatte es auch Momente des Glücks gegeben? In der Fernsehserie, in der allein das «Starksein» half, gab es solche Momente, sie waren unterlegt mit Geigenmusik, aber in ihrer Erinnerung gab es sie nicht. Das Einzige, was ihr immer wieder einfiel, war jener Abend vor der Nacht, in der ihre Mutter sterben sollte. Da hatte sie sich unter einem Vorwand vom Krankenbett weggestohlen, hatte gesagt, sie komme morgen wieder, hatte sich eingeredet, dass ihre Mutter auch morgen noch da sein werde – obwohl sie wusste, dass jede Nacht die letzte sein konnte und man begonnen hatte, in Stunden zu zählen und nicht mehr in Tagen. Und als sie dann vor dem Krankenhaus im Regen stand, hatte sie den Kopf in den Nacken gelegt und den Regen ihr Gesicht waschen lassen, und sie hatte einen unerhörten Moment der Freiheit erlebt.
    Am nächsten Morgen war das Bett leer. Man brauche den Platz, hieß es. Frisch bezogen, weiß

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