Bis zum Ende der Welt
Sein Handy klingelte, er zog es aus der Tasche und meldete sich: «Ach, servus, du bist’s!» Wieder sah sie die Doppelreihe weißer, gerader Zähne. Sein gescheiteltes Haar, dem Rhythmus des Lachens folgend, wippte leicht. Ob er Haarspray benutzt?, fragte sie sich. «Ja!», sagte er. «Drei Uhr passt su-uuper. Aber nur neun Loch!» Er beendete das Gespräch, ließ das Handy in die Tasche seiner Arzthosen gleiten und blickte Anna ernst an. «Sie müssen jetzt sehr stark sein», sagte er, stieg in sein Auto und fuhr davon.
«Und was nun?», fragte sie Laska.
«Er hat mir eine Therapie vorgeschlagen.»
«Therapie?»
«Chemo.»
Er saß an dem großen Esstisch, auf dem eine Flasche Mineralwasser und zwei Gläser standen. «Ein, zwei Monate mehr, vielleicht drei. Ich weiß nicht, ob es das wert ist. Die Haare werden mir ausfallen. Wozu?»
Sie ging vor ihm in die Hocke. «Für mich.»
Er sah sie traurig an.
«Ich meine, wenn du länger lebst, musst du mir mehr Geld geben.»
«Manchmal denke ich, es wäre besser, wenn einer dieser Ärzte mir einfach ein Datum nennen würde. Oder einen Stempel in den Pass, geboren am … wird sterben am …»
«Dann», sagte sie, «wärst du nichts weiter als ein Gespenst.»
Die Geschichte vom schrecklichen Colonel Spikes oder Wie die Gespenster von Spandau zu Gespenstern wurden
«Ihr werdet alle sterben, ihr Naziarschgeigen, ihr wisst nur noch nicht, wann, und wir wissen es auch nicht, und deswegen seid ihr hier. Ihr seid bereits tot, das steht schon mal fest, und je früher ihr das begreift, desto besser werden wir uns alle hier verstehen.»
Das war die kurze Ansprache, die Colonel Spikes an seinem ersten Tag als amerikanischer Gefängnisdirektor in Spandau hielt. Die sieben Gespenster dachten, sie hätten nicht recht gehört. Was war hier los?
Schon seit längerem gab es in Berlin ein tiefes Zerwürfnis zwischen den westalliierten Besatzungsmächten und ihren sowjetischen Kollegen. Man mochte sich nicht mehr. Man warf sich gegenseitig Knüppel zwischen die Beine, belauerte sich. Hinterrücks ließ man in ganz Europa riesige Armeen aufmarschieren, rüstete Langstreckenbomber mit Atombomben aus und fuhr nachts an den Grenzen Raketenabschussrampen hin und her. «Das war der Kalte Krieg», erklärte Konew.
«Was ist ein kalter Krieg?», fragte Anna.
«Das ist ein Krieg, der nie richtig anfängt, aber darum auch nie richtig aufhört. Es ist wie Regenwetter. Der Himmel ist ständig grau, es ist nass, man starrt aus dem Fenster, aber man kann nicht vor die Tür.»
Doch ab und zu riss die Wolkendecke auf. Dann bemühten sich beide Seiten um «gutes Wetter» und versuchten, dem anderen an einer Stelle entgegenzukommen, an der es einem selbst am wenigsten weh tat.
Das Kriegsverbrechergefängnis war eine solche Stelle. Lange schon hatten sich die Amerikaner, Briten und Franzosen über die ihrer Ansicht nach übertriebene Härte des sowjetischen Gefängnisdirektors beschwert. In den Monaten, in denen er das Kommando hatte, wurde jede Zelle doppelt so oft kontrolliert, das Licht früher ausgeschaltet, das Sprechverbot ohne Ausnahme durchgesetzt, die Essensration gekürzt. Unangemeldet pflegte er in der Küche aufzutauchen und das Essen der Gefangenen nachwiegen zu lassen. Dabei kam es einmal zu einem erbitterten Streit um Brokkoli. Der sowjetische Direktor war nämlich der Ansicht, dass auf den Tellern der Gefangenen zu viel Essen lag, und ordnete an, jede einzelne Ration erneut abzuwiegen.
«Zu viel, zu viel, zu viel», sagte er siebenmal. «Entfernen Sie den Brokkoli!»
«Bei allem Respekt», sagte der Koch, «aber in Brokkoli sind kaum Kalorien, vom Nährwert her macht es überhaupt keinen Unterschied, ob der dabei ist oder nicht, egal, was die Waage anzeigt.»
Der sowjetische Direktor wollte schon zu einer seiner gefürchteten antiimperialistischen Schimpftiraden ausholen, da runzelte er die Stirn. Er trat an die Waage, auf der der Teller von Nummer 5 stand, hob die neben den Kartoffeln und dem Brokkoli liegende Wurst an, lächelte und sagte zum Koch: «Sie haben völlig recht. Entfernen Sie die Wurst!»
Dieser Vorfall zog einen langwierigen und verschlungenen Schriftwechsel nach sich. Protestnoten wurden ausgetauscht, Sitzungen anberaumt, verschoben, abgesagt und wieder neu festgesetzt, und es verging beinahe ein ganzes Jahr, bis man sich endlich darauf geeinigt hatte, dass in Zukunft ausschließlich die in den Mahlzeiten enthaltenen Kalorien für die Größe der
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