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Bis zum Ende der Welt

Bis zum Ende der Welt

Titel: Bis zum Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Zähringer
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dass noch eine der üblichen, unangekündigten Inspektionen stattfinden sollte. Doch er nannte jedem nur ein Datum und eine Uhrzeit und ging wieder.
    Die sieben dachten zunächst, er habe ihnen gesagt, wann man sie entlassen werde. Doch das Merkwürdige an den verschiedenen Tagen, die er ihnen – leise flüsternd, während sie starr im Dunkeln auf ihren Betten lagen – genannt hatte, war: Bei einigen lagen sie vor dem Ende ihrer regulären Haft, bei anderen weit danach.
    «Er wird sich einen dummen Scherz mit uns erlaubt haben», sagte Nummer 3 , der alte Konsul.
    Das war auch die Meinung der anderen.
    Nach jener Nacht war der junge russische Wärter verschwunden und blieb es auch während der sowjetischen Monate darauf. «Hat es bestimmt zu doll getrieben», vermutete der alte Konsul.
    Beinahe ein ganzes Jahr verging, ein Jahr, in dem sie den jungen Wärter vergaßen und von Colonel Spikes mit immer neuen Schimpfwörtern bedacht wurden. Dann erreichte sie die überraschende Nachricht, dass der alte Konsul wegen seines Alters vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen werde – zwei Jahre vor dem Tag, den ihm der junge Wärter genannt hatte. «Seht ihr», rief er zum Abschied, «ich habe ja gesagt, es war ein dummer Scherz.»
    Wieder verging ein Jahr, und man entließ vorzeitig Nummer 2 , den Matrosen, der zu lebenslanger Haft verurteilt worden war. Er rief nichts, er sagte nichts, und er hatte, wie auch die anderen, die er in Spandau zurückließ, den jungen Russen längst vergessen.
    Noch ein Jahr später, im amerikanischen Monat August, war er plötzlich wieder da. Der junge russische Wärter lehnte an der Gefängnismauer, als sie in den Garten kamen. Eine Ahnung drohenden Unheils beschlich sie. Beim Mittagessen hörten sie es: Der alte Konsul war gestorben. Das war nicht überraschend, denn er war bereits bei seiner Entlassung steinalt gewesen. Erschreckend war das Datum seines Todes: Es war der Tag, den der junge Wärter ihm einst genannt hatte.
    Nach dem Essen, als sie wieder in den Garten gingen, sahen sie ihn immer noch an der Mauer stehen und fragten: «Woher hast du gewusst, wann er stirbt?»
    Der Wärter war ganz still, und sosehr sie ihn auch bedrängten, er antwortete ihnen nicht.
    Stattdessen hörten sie hinter sich eine vertraute Stimme, die Stimme von Colonel Spikes:
    «He, ihr verdammten Sauerkrautfurzer! Mit wem quatscht ihr da eigentlich?»
     
     
    Dr. Winther kam eine Woche später wieder. Er hatte eine kleine, korpulente Pflegerin im Schlepp, eine dunkelhaarige Person namens Gracia, Packesel für die Gerätschaften, die er im Fond seines Cabrios hergefahren hatte. Sie betraten Laskas Haus mit den ernsten, professionellen Mienen von Sanitärinstallateuren, die zu einem Wasserrohrbruch gerufen worden waren.
    «Na dann wolln wir mal», sagte Winther munter.
    «Vamos!», sagte Gracia.
    Und sie marschierten Richtung Schlafzimmer.
    «Ich möchte nicht, dass sie mit dabei ist», hörte Anna Laska sagen. Als sie sich trotzdem in der offenen Tür zeigte und ihn auf der Bettkante sitzen sah, bat er sie, draußen zu bleiben und unten zu warten. Bevor sie sich ins Erdgeschoss zurückzog, sah sie die Zwergin einen Ständer aufbauen, an den sie eine Infusionsflasche hängte.
    «Sie hätten ja auch zu mir in die Klinik kommen können», hörte sie Winther sagen, als sie schon auf der Treppe war.
    «Ich gehe in kein Krankenhaus mehr», antwortete Laska.
    Nach zehn Minuten kam Winther die Treppe herunter.
    «Was geben Sie ihm da?», fragte sie ihn.
    «Gift. In der Hoffnung, dass es die Krankheit eher umbringt als die Krankheit ihn. Hätten Sie vielleicht mal ein Wasser oder so was?» Er ließ sich aufs Sofa plumpsen.
    Anna holte ein Glas und eine halbvolle Flasche und stellte beides vor ihn auf den Couchtisch.
    «Bedienen Sie sich!»
    Winther grinste säuerlich, dann nahm er Glas und Mineralwasser und schenkte sich ein. Er trank, seufzte und strich sich nachdenklich mit dem Zeigefinger über die Lippen. «Wenn ich fragen darf: Wer sind Sie eigentlich? Sind Sie seine Frau? Seine Freundin? Oder seine Tochter?»
    «Sie dürfen nicht.»
    «Na ja, geht mich ja auch nichts an. Aber Sie sollten bestimmte Dinge wissen.» Er holte einen kleinen Block hervor und ließ einen Kugelschreiber klicken. «Gracia kommt dreimal die Woche für die Infusion. Das machen wir die nächsten zwei Wochen so, danach Tabletten, mal sehen, wie es anschlägt. Es könnte sein, dass er in dieser Zeit wieder Probleme bekommt, entweder wegen der

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