Bis zum Horizont
Worte zu hören.
Siebenundzwanzigstes Kapitel
Dann läuteten die Glocken lauter und tiefer: »Gott ist nicht tot, und er schläft auch nicht.«
Longfellow
Alan Christoffersens Tagebuch
Meine Mutter sagte oft, der kürzeste Weg zur Heilung bestünde darin, jemand anderen zu heilen. Ich hatte bisher nicht gewusst, wie recht sie hatte. Während ich mich um Nicole gekümmert hatte, hatte ich meinen eigenen Schmerz und Verlust fast vergessen. Eigentlich hätte mir die Vorweihnachtszeit trostlos vorkommen oder mich zumindest melancholisch stimmen müssen, und natürlich gab es solche Augenblicke auch, aber sie überschatteten nicht die ganze Zeit. Ich vergaß McKale nie – das war. Ich entdeckte nur eine andere Seite meines Verlusts. Ich empfand vor allem die Süße dessen, was gewesen war, als Bitterkeit deshalb, weil es nicht mehr war.
Auch Nicole schien sich verändert zu haben, als hätte sich, indem sie ihren alten Namen wieder annahm, alles andere in ihrem Leben ebenfalls verändert. Zum ersten Mal, seit ich zu ihr nach Hause gekommen war, hörte sie auf, von den entsetzlichen Dingen zu reden, mit denen sie jeden Tag bei der Arbeit zu tun hatte, und begann, von den positiven zu erzählen, zum Beispiel davon, wie die Polizei Kindern während der Feiertage half, oder von den Leuten, die völlig Fremde unter Einsatz des eigenen Lebens retteten.
Wir sahen uns keine Filme von ihrer Liste mehr an, nur ein paar Weihnachtsfilme: Das Wunder von Manhattan, Weiße Weihnachten und den Peanuts-Film Fröhliche Weihnachten. Wir amüsierten uns und machten das Beste aus den Feiertagen.
Wir gingen zu einer Bühnenproduktion von A Christmas Carol und zur Aufführung von Der Stern von Bethlehem im Planetarium. Außerdem besichtigten wir die Weihnachtsbaum-Ausstellung im Davenport-Hotel im Stadtzentrum von Spokane.
An einem Samstag fuhren wir über die Grenze nach Cœur d’Alene in Idaho, um die bemerkenswerte Weihnachts-Lichtershow zu sehen, bei der über eineinhalb Millionen Lichter auf dem ganzen See leuchteten.
Mit Ausnahme unserer kleinen Spritztour nach Cœur d’Alene nahmen wir Bill (und sein Old Spice) zu fast allen Unternehmungen mit, darunter auch zu einem gemeinsamen Weihnachtsliedersingen in der benachbarten Montessorischule. Es machte Spaß zuzusehen, wie sehr er sich darüber freute, dabei zu sein, und ich erkannte, dass Nicole das, was ich für sie tat, wiederum für Bill tat.
Während alldem war es verlockend zu leugnen, dass die Kerze der gemeinsamen Zeit, die mir und Nicole zugeteilt war, allmählich niederbrannte, und an etwas Dauerhafteres zu glauben. Diese Verleugnung der Tatsachen mag Ihnen seltsam vorkommen, aber in gewisser Weise tun wir es alle jeden Ta g.
Achtundzwanzigstes Kapitel
Das Überreichen eines Weihnachts-Früchtekuchens ist eine Tradition, die von Generation zu Generation zu Generation weitergegeben wurde. Der Grund dafür ist, dass niemand ihn wollte.
Alan Christoffersens Tagebuch
Heiligabend. Christine war nach Portland geflogen, um Weihnachten zu Hause bei ihrer Familie zu verbringen, aber Bill leistete uns Gesellschaft. Wir drei machten uns ein schönes Abendessen: Schinken, Kartoffelgratin und Spargel und zum Nachtisch einen Obstsalat. Bill brachte einen Früchtekuchen mit, was mich an das erinnerte, was Johnny Carson zum Thema Früchtekuchen gesagt hatte. »Es wurde überhaupt nur ein einziger Früchtekuchen je gebacken – und jedes Jahr zu Weihnachten wird er auf der ganzen Welt herumgereicht.«
Nach dem Abendessen tauschten wir unsere Geschenke. Ich schenkte Nicole sämtliche Alfred-Hitchcock-Filme und einen Jahresvorrat an Popcorn. Bill schenkte ich eine Flasche Old Spice. Er streichelte die Flasche, als wäre sie ein guter Wein. »Woher wusstest du, dass ich das mag?«, fragte er.
»Ich habe geraten«, sagte ich.
Nicole schenkte ihm den silbernen Bilderrahmen.
»Ich glaube, das ist der schönste Bilderrahmen, den ich je gesehen habe«, sagte er.
»Ich dachte, du könntest ein Bild von June hineintun.«
Seine Augen füllten sich mit Tränen, und sein Kinn begann zu zittern. »Danke«, war alles, was er herausbrachte.
Mir schenkte Nicole etwas weniger Sentimentales – ein paar Nike-Wanderstiefel und sieben Paar wollene Sportsocken.
Als wir später mit Bill zu seinem Wagen gingen, fiel Schnee und hüllte die Welt in eine sanfte, friedliche Stille. Bill gab mir die Hand, dann wandte er sich an Nicole und umarmte sie fest. »Danke, meine Liebe. Deine Freundschaft
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