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Bis zum letzten Atemzug

Bis zum letzten Atemzug

Titel: Bis zum letzten Atemzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gudenkauf
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Fingernägeln kaute.
    »Hey Mom«, sagte sie immer, die Stimme heiser von unterdrückten Tränen und mehr, vielleicht Bedauern, vielleicht Schuldgefühlen. Dann folgte eine Reihe von Jas und Neins und Okays. Keine Geschichten über ihr neues Leben in Broken Branch, sondern nur kurze, höfliche Antworten. Augie gab das Telefon dann immer an Will zurück und eilte aus dem Haus, vollkommen unpassend gekleidet mit einem Kapuzensweatshirt und Turnschuhen. Will war sich nicht sicher, wohin sie lief, aber er nahm an, zu dem alten Heuboden im südlich gelegenen Stall. Da hatte sich zumindest ihre Mutter immer versteckt, wenn sie traurig gewesen war.
    Dann war es an Will, zu versuchen, eine Unterhaltung zu führen. »Wie geht es dir?«, fragte er jedes Mal. »Fühlst du dich heute schon besser?«
    »Gut, ja«, erwiderte Holly mit belegter Stimme, als wenn ihre Zunge geschwollen wäre oder sie unter Medikamenten stünde. Was beides im Bereich des Möglichen lag.
    »P. J. hat wirklich Gefallen am Farmleben gefunden. Wer hätte das gedacht? Er ist mir eine große Hilfe und stellt sehr viele Fragen.«
    »Oh, das ist schön.«
    »Augie ist hingegen ein echtes Großstadtmädchen. Sie erinnert mich sehr an dich.« Will lachte leise. Keine Reaktion. »Sie vermissen dich, aber ich kümmere mich gut um sie. Mach dir also keine Sorgen, hörst du?«
    »Okay.«
    »Werde schnell wieder gesund, Hol. Ich liebe dich.«
    »Bye.«
    Er war kein Mann, der seine Gefühle öffentlich zur Schau stellte. Er umarmte auch nicht gerne. Aber wenn seine Kinder unter seinem Dach weilten, verging nicht ein einziger Abend, an dem er ihnen nicht sagte, dass er sie liebte. Er hatte in Vietnam als Lieutenant genügend Männer fallen sehen. Jungen, die alles dafür gegeben hätten, ihren Frauen, ihren Kindern, ihrer Familie noch ein letztes Mal zu sagen, dass sie sie liebten. Jeden Abend war Will in die Zimmer seiner Kinder gegangen und hatte einem nach dem anderen erzählt, dass er es liebte. Als sie klein gewesen waren, hatten sie sich in seine Arme geworfen, sogar Holly, hatten ihre frisch geschrubbten Gesichter an seinem Hals vergraben und die vielschichtige, erdige Mischung der Gerüche der Farm in sich aufgesogen, die aus seinen Poren strömte. Als die Jungen älter gewesen waren, gaben sie ein lockeres »Lieb dich auch, Dad« zurück, und mehr brauchte Will nicht. Sobald diese Worte ausgesprochen waren, konnte er nachts gut schlafen. Mit Holly hingegen war es eine andere Geschichte. Als sie zwölf gewesen war, hatte sich irgendetwas verändert. Sie betrachtete ihn nicht mehr länger mit dem Blick eines kleinen Mädchens, das seinen Vater bewundert, sondern beinahe misstrauisch, die Augen zu ablehnenden kleinen Schlitzen verengt. Ich lieh dich, Hol, hatte er von der Türschwelle ihres Zimmers aus gesagt, ohne ihr Reich aus Nagellackflaschen und Kleiderbergen zu betreten.
    »Gute Nacht«, erwiderte sie, ohne ihn direkt anzuschauen, sondern weiter in den Seiten eines Modemagazins blätternd.
    »Ich liebe dich, Holly«, wiederholte er etwas lauter.
    »Hm-mh«, erwiderte sie abwesend, was unweigerlich einen Funken der Wut in seiner Brust entzündete.
    Irgendwann machte er sich nicht mehr die Mühe, ihre Zimmertür zu öffnen, um ihr Gute Nacht zu sagen. Er klopfte einfach zweimal. »Gute Nacht, Holly. Ich liebe dich«, rief er durch die geschlossene Tür und ging schnellen Schrittes davon. Er ertrug es nicht, die Verachtung auf ihrem Gesicht zu sehen, sie die drei kleinen Worte nicht erwidern zu hören. Und nun, achtzehn Jahre später, sagte er Ich liebe dich zu einer Tochter, die immer noch keinen Grund zu haben schien, die Worte zu erwidern.
    Nachdem er die Rinder gefüttert hatte, ging er zum großen Stall, in den er Anfang der Woche gemeinsam mit Daniel vier trächtige Kühe gebracht hatte. Bis Mitte Mai würden über einhundert Kälber geboren. Trotz des Schutzes durch die Stallwände war die Kälte eingedrungen, und Will sorgte sich, dass einige der Kälber bei den eisigen Temperaturen umkommen könnten.
    Im Stall angekommen tätschelte er den seidigen Rumpf einer der Kühe. Er würde in der Nähe bleiben und über den Tag immer wieder nach ihnen sehen müssen. Das Kalb erwartete er noch vor Einbruch der Dämmerung. Als er einen Ruf hörte, schaute er auf. Durch die breite Tür sah er Daniel wild winkend auf sich zulaufen. Daniel Tucker war ein gleichmütiger, systematischer Mann um die dreißig, unverheiratet und ganz den Tieren und dem Land ergeben.

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