Bis zum letzten Atemzug
Pferdeschwanz oder zu einem dicken Zopf geflochten, der ihr wie ein Seil über die Schulter fällt. Wenn ich versuche, meine Haare zu einem Zopf zu flechten, sieht es immer aus wie der Schwanz einer magersüchtigen Ratte. Die Jungen in der achten Klasse lieben sie, weil sie immer noch Spaß daran hat, Kröten zu fangen und Steine über den Fluss springen zu lassen, und weil sie Mitglied bei 4-H ist, der Organisation für Jugendliche auf dem Land, und Kälber aufzieht, die sie jeden Sommer auf landwirtschaftlichen Jahrmärkten vorführt. Sie kann sich über Nutzpflanzen und Waffen unterhalten und geht mit ihrem Vater auf Fasanen- und Hirschjagd. Abgesehen von diesem Jahr, weil ihre Eltern sich scheiden lassen. In den vergangenen zwei Monaten sind wir aber tatsächlich Freundinnen geworden. Beth ist nett und kann sehr gut zuhören. Außerdem war sie der einzige Mensch abgesehen von P. J. und meinem Großvater, der sich nicht über meine rot gefärbten Haare lustig gemacht hat. Das nenne ich eine echte Freundin. Und wir haben auch was gemeinsam. Unsere Eltern. Meine sind geschieden, und Beths Mom und Dad stehen kurz davor, sich scheiden zu lassen. Sie hört mir zu, wenn ich mich darüber beschwere, dass ich Arizona verlassen musste, um bei meinem Großvater zu leben, und sie beklagt die Traurigkeit ihrer Mom und die Versuche ihres Dads, ihr Schuldgefühle zu machen, weil sie zu ihrer Mutter hält.
»Was ist los?«, fragt Beth erneut; ihre Stimme zittert. Ich spüre, wie mein Magen sich besorgt zusammenzieht, und denke an P. J. Dann denke ich an meine Mutter, und der Wunsch, mit ihr zu sprechen, ist größer als alles andere. Mein Handy ist in meiner Büchertasche, die in meinem Spind auf dem Flur steckt. Ich frage mich, ob Mr Ellery mir erlauben würde, es zu holen.
»Wir haben hier einen Ernstfall«, sagt Mr Ellery mit ernster Miene, als er ins Klassenzimmer zurückkehrt. »Das ist keine Übung.« Er fährt sich mit der Hand durchs schwarze Haar und zupft an seinem Kinnbart. Dann schließt er die Tür zum Klassenraum und drückt den Knopf, der sie verriegelt. So viel zum Thema, mein Handy zu holen.
»Hey, was machen Sie da?«, fragt Noah überrascht.
»Pst, ich denke nach.« Mr Ellery kaut auf seiner Unterlippe und schaut aus dem kleinen Fenster, das in die Tür eingelassen ist. Dann dreht er sich zu uns um. »Versammeln wir uns alle in der Ecke da hinten.« Er zeigt auf den Platz hinter seinem Schreibtisch, der von Tür und Fenstern am weitesten entfernt ist.
»Hat da jemand eine Pistole?«, fragt Felicia mit weit aufgerissenen Augen.
»Oh mein Gott«, flüstert jemand hinter mir.
»Das wissen wir noch nicht«, beeilt Mr Ellery sich zu erklären.
»Wir können nicht hier drinbleiben und darauf warten, dass jemand hereinkommt und uns alle wegpustet«, protestiert Noah wütend, und ich erkenne wieder einmal, was für ein absoluter Volltrottel er ist.
»Doch, wir bleiben«, sagt Mr Ellery fest. »Und zwar so lange, bis wir eine Entwarnung bekommen.«
Noah sieht aus, als wolle er etwas sagen, doch als ein Schüler nach dem anderen aufsteht und in die hintere Ecke des Raumes geht, um sich zwischen Lehrerpult und die Wand zu quetschen, entschließt er sich, der Anweisung ebenfalls zu folgen.
»Die Jungs sollten außen sitzen«, sagt Savannah.
»Leck mich.« Noah funkelt sie wütend an. »Ich werde für niemanden hier den Schutzschild spielen. Ich will so nah am Fenster sitzen, wie ich nur kann. Bei der erstbesten Gelegenheit bin ich hier weg.«
»Hey, Noah, halt dich ein bisschen zurück.« So wie Mr Ellery das sagt, habe ich den Eindruck, er hätte selber nichts dagegen, aus einem Fenster zu klettern. »Niemand wird für irgendjemanden Schutzschild spielen. Gibt es irgendwen, dem es nichts ausmacht, am Rand zu sitzen?« Fünf Hände werden gereckt, darunter die von Beth und Drew. Langsam hebe ich auch meine. »Okay, danke.« Mr Ellery nickt uns zu. »Alle setzen sich. Und kein Getuschel.« Er schaltet das Licht aus, und der Raum färbt sich grau, was zu dem Himmel draußen passt.
Ich setze mich auf den harten Linoleumboden und lehne mich gegen die Seitenwand von Mr Ellerys Tisch. Beth sitzt auf der einen Seite von mir, Drew auf der anderen. Mr Ellery geht zum Fenster und lässt die Jalousien herunter, dann geht er zum Telefon, das auf seinem Tisch steht, nimmt den Hörer ab, hält ihn sich ans Ohr und legt schließlich wieder auf. Er setzt sich auf den Tisch; trotz seiner langen Beine berühren seine Füße
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