Bis zum letzten Atemzug
durch und versuchte, ihr eigenes Gehirn zu verlangsamen. Solche Entspannungstechniken setzte sie bei ihren Schülern oft vor Diktaten ein oder vor dem verhassten Iowa Test des Schulischen Grundwissens. Jetzt fing sie jedoch an, die Effektivität dieser Strategie zu bezweifeln, die sie ihren Schülern immer so sehr ans Herz legte. Sie merkte, wie die Panik in ihrer Brust aufblühte, spürte ihr Herz so heftig schlagen, dass sie fürchtete, die Strasssteine würden gleich von ihrem Kleid abplatzen. Sie versuchte, ihren tiefen Atem mit Gedanken an Cal zu kombinieren. Cal hatte immer einen beruhigenden Effekt auf sie.
Überraschenderweise war Mrs Oliver nicht immer Mrs Oliver gewesen, obwohl die meisten das glaubten. Die ersten siebzehn Jahre ihres Lebens war sie Evelyn Schnickle gewesen. Danach wurde sie Mrs George Ford.
George war genauso groß gewesen wie sie, sehr gut aussehend, lustig und mit den schönsten grünen Augen der Welt. Er war der erste Junge, den Evelyn je geküsst hatte, und in der Minute, in der seine Lippen ihre berührten, hatte sie beschlossen, diesen Mann zu heiraten. Die Hochzeit fand am Wochenende nach ihrem Highschoolabschluss statt. Es war ein verregneter Juninachmittag. Auf dem Empfang zog George sie damit auf, dass sie ihn nur wegen seines Nachnamens geheiratet hätte. Doch obwohl sie zugeben musste, dass Evelyn Ford viel besser klang als Evelyn Schnickle, war das definitiv nicht der Grund für diese Ehe, was sie mit einem wagemutigen Blick nach unten deutlich machte, der George sofort zum Erröten brachte. Zwei Monate nach ihrer Hochzeit wurde George nach Vietnam geschickt, und Evelyn wohnte bei seinen Eltern in Cedar Falls und besuchte das College, um sich zur Lehrerin ausbilden zu lassen. Drei Monate später standen zwei uniformierte Soldaten vor der Haustür und brachten die Nachricht, dass ihr Ehemann mit einem Drittel seines Bataillons in Plei Mei gefallen war. Als sie die fürchterliche Neuigkeit erfuhr, erbrach Evelyn sich über die auf Hochglanz polierten schwarzen Schuhe des einen Soldaten. Danach versuchte sie, das Malheur mit Mrs Fords Lieblingsdecke wieder wegzuwischen. Nach also nur fünf Monaten Ehe war Evelyn im zarten Alter von achtzehn Jahren schon Witwe. Und schwanger.
Evelyn wusste nicht, wie man eine Witwe war. Sie hatte ja nicht einmal ausreichend Zeit gehabt, herauszufinden, wie man eine Ehefrau war. Wenn sie allein war, beweinte sie den Verlust von George. Sie konnte nicht schlafen, weil sie immer daran denken musste, wie er alleine im dunstigen Dschungel gestorben war. Ihre Schwiegereltern waren von dem gebrochenen Herzen ihrer Schwiegertochter gerührt und versuchten ihr Bestes, um sie zu trösten. Sie sagten ihr, dass sie so lange bei ihnen bleiben könne, wie sie wolle. Doch das war genau das Problem: Sie glaubte, verrückt zu werden, wenn sie länger als unbedingt nötig mit den Fords zusammenwohnen müsste. Die Traurigkeit im Haus drohte sie zu ersticken, und wenn sie ehrlich war, fürchtete sie sich davor, Mutter zu werden.
All das änderte sich, als sie Cal Oliver traf. Jetzt, fünfundvierzig Jahre später, fragte sie sich, ob es dieses Mal Cal wäre, der einen Besuch von einem Uniformierten bekommen würde, einem Polizisten, der ihm erzählte, dass seine Ehefrau tot sei. Getötet von einem verrückten Mann mit einer Pistole, während eines Schneesturms Mitte März, in einem Klassenzimmer der Schule einer Kleinstadt in Iowa. Wer hätte gedacht, dass es so enden würde? Sie war immer davon ausgegangen, wie ihr Vater an einem Schlaganfall zu sterben oder an Brustkrebs wie ihre Tanten. Aber nicht durch die Hand eines mörderischen Kretins. Sie fragte sich, ob Cal wohl weinen würde, und schniefte bei dem Gedanken daran, dass er trockenen Auges auf ihrer Beerdigung stehen könnte. Natürlich würde er weinen; er war der Emotionale in ihrer Beziehung. Sie dachte darüber nach, wie er es ihren Kindern erklären würde. Er telefonierte nicht gern. Wann immer sie ihm den Hörer in die Hand drückte, verließ ihn seine Sprache. Der Mann konnte stundenlang mit jemandem reden, der sich mit ihm in einem Raum befand, aber nicht am Telefon.
»Ich möchte ihre Gesichter sehen, wenn ich mit ihnen spreche«, hatte er versucht, es zu erklären. Evelyn hatte nur mit der Zunge geschnalzt und ihm den Hörer aus der Hand genommen. Nun bereute sie, mit Cal so ungeduldig gewesen zu sein. Wenn sie die Chance bekäme, würde sie einiges anders machen. Sie würde sich nie wieder
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