Bis zum letzten Atemzug
darüber, dass zwei Schüler fehlten. Lily und Maria. War eine von ihnen sein Ziel? Und wenn ja, warum ging er dann nicht einfach, um sie zu suchen, anstatt hier im Klassenzimmer zu verweilen? Steckte er schon zu tief drin? Hatte er das Gefühl, nichts mehr zu verlieren zu haben?
RJ. schaute den Mann immer noch unverfroren an, und Mrs Oliver hatte das Gefühl, dass der Junge ihn vielleicht kannte oder zumindest schon mal vorher gesehen hatte.
Sie fragte sich kurz, ob das hier vielleicht Bobby Latham war, ihr ehemaliger Schüler, der sie aus Rache für alte Zeiten zwang, eine unerträglich lange Zeit still zu sitzen. Sie und Bobby hatten einander gemocht. Sie waren zu einer Übereinkunft gekommen. Sie hatte ihm versprochen, ihm nie wieder zu sagen, er solle nach vorne schauen, solange er aufhörte, die Seiten seines Mathebuchs dazu zu nutzen, feuchte kleine Papierkugeln herzustellen, die er durch den Schaft seines Kugelschreibers gegen Kitty Rawlings Hinterkopf pustete. Nein, das hier war nicht Bobby Latham. Aber vielleicht ein anderer ehemaliger Schüler.
In Gedanken ging sie all die Kinder durch, die sie im Laufe der Jahre unterrichtet hatte. Es könnte Walter Spanksi sein, der einzige Schüler, der bei ihr je sitzen geblieben war. Er müsste jetzt Anfang fünfzig sein. Was das damals für eine Aufregung gegeben hatte, als sie darauf bestand, Walter die dritte Klasse wiederholen zu lassen. Egal, wie viel Mühe sie sich gegeben hatte, um ihm das Multiplizieren und das Lesen der einfachsten Sätze beizubringen, er hatte es einfach nicht verstanden. Sie hatte ihn nicht guten Gewissens in die vierte Klasse schicken können, wenn er nicht einmal ein Verb von einem Hauptwort unterscheiden konnte und bei den wöchentlichen Diktaten regelmäßig siebzehn der zwanzig Wörter ausließ oder falsch schrieb. Es war in ihrem zweiten Jahr als Lehrerin gewesen, und sie erinnerte sich noch lebhaft dran, Mr und Mrs Spanksi gegenübergesessen zu haben – im dritten Monat schwanger mit ihrem zweiten Kind – und sie darüber zu unterrichten, dass Walter, der ein guter Junge war, nicht mit den anderen in die vierte Klasse versetzt würde. Mr Spanksi hielt seinen Hut in den großen, abgearbeiteten Händen und bettelte darum, seinem Jungen noch eine Chance zu geben. Über den Sommer konnte so viel passieren. Sie würden jeden Tag mit ihm üben, ihm einen Nachhilfelehrer besorgen. Mrs Spanksi sagte kein Wort, sondern weinte nur lautlos in ihr Taschentuch. »Es tut mir sehr leid, Mr und Mrs Spanksi«, hatte Mrs Oliver gesagt und betrübt den Kopf geschüttelt. »Ich kann Walter nicht guten Gewissens in die vierte Klasse versetzen. Ich bin mir aber sicher, dass ein weiteres Jahr in der dritten Klasse genau das ist, was er braucht, um nächstes Jahr mithalten zu können«, hatte sie fröhlich gesagt. Nun ja, sie hatte ein weiteres Jahr mit Walter gehabt, und wie sich herausstellte, tat ihm der erneute Besuch der dritten Klasse überhaupt nicht gut. Im Laufe der neun zusätzlichen Monate, die Mrs Oliver mit Walter hatte, musste sie mit ansehen, wie er sich von einem netten Jungen in einen sehr wütenden Jungen verwandelte, dessen Noten am Ende des Schuljahrs keine wesentlichen Verbesserungen aufwiesen. Aber der Mann mit der Pistole war auf keinen Fall Walter Spanksi, obwohl sie durchaus verstehen könnte, wieso er versucht sein könnte, in seinen alten Klassenraum zurückzukehren, in dem eine dreiundzwanzig Jahre alte Lehrerin die Frechheit besessen hatte, ihn durchfallen zu lassen, und ihr eine Waffe an den Kopf zu halten. Wie befriedigend das wohl sein musste. Aber Walter war zu alt, um dieser Mann zu sein.
Über die Jahre hatte sie Schüler beim Schummeln erwischt, beim Kämpfen, beim Rauchen, Stehlen und vielen anderen Vergehen. Aber keiner ihrer Schüler hatte sie je gehasst. Sie bildete sich etwas darauf ein, als fair und mitfühlend zu gelten; sie hatte gelernt, dass ein Schüler so viel mehr war als die Noten in seinem Zeugnis. Er war ein menschliches Wesen, jung und noch nicht ganz ausgereift, und genau da kam sie ins Spiel. Nach dem grauenhaften zweiten Jahr mit Walter hatte sie erkannt, dass sie die Macht, nein, die Hoheit darüber hatte, ein Kind zum Lernen zu bringen, ihm das Lernen schmackhaft zu machen. Und in ihren dreiundvierzig Jahren als Lehrerin hatte es nur einen anderen Schüler neben Walter gegeben, bei dem sie das Gefühl gehabt hatte, versagt zu haben. Mrs Oliver kniff die Augen zusammen, versuchte, an der
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