Bis zum letzten Atemzug
darüber beklagen, dass er einfach in die Küche kam, sich aus dem Schrank eine Tüte Cracker oder Chips nahm und wieder ging, wobei er die Schranktür weit offen stehen ließ, sodass der Nächste, der die Küche betrat, sich den Kopf daran stieß. Sie würde sich nicht mehr darüber beschweren, dass er peinlich genau darauf achtete, die Garage sauber und aufgeräumt zu halten, im Haus aber nicht den kleinsten Papierschnipsel wegwerfen konnte, ohne sich vorher stundenlang den Kopf darüber zu zerbrechen.
Nein, Mrs Schnickle-Ford-Oliver würde heute nicht sterben. Sie würde heute Nachmittag nach Hause gehen und ihren Ehemann küssen. Und zwar leidenschaftlich. Sie würde ihre Kinder und Enkel anrufen und dann endlich das regenbogenverzierte Kleid ausziehen.
WILL
Während Will in seinen Pick-up stieg, überlegte er, ob er Marlys anrufen und ihr erzählen sollte, dass in der Schule der Kinder irgendetwas vor sich ging. Doch schnell verwarf er die Idee wieder. Er hatte keine Ahnung, was los war, aber er wusste, dass Marlys ihm viele Fragen stellen würde, die er nicht beantworten könnte. Außerdem ließe er sie dann mit der Bürde zurück, zu entscheiden, ob sie es Holly erzählen sollte oder nicht. Nein, das wäre nicht fair. Es gab sowieso nichts, was Marlys drüben in Revelation, Arizona, tun könnte, um ihm in dieser Situation zu helfen. Ihre Aufgabe war es, sich um Holly zu kümmern, der es einfach nicht besser gehen wollte. Der letzte Rückschlag war eine Infektion, die irgendwie in ihren Blutkreislauf gelangt war, obwohl man sie seit der Minute, in der sie im Krankenhaus angekommen war, mit Antibiotika vollpumpte. Nein, Will würde keinen Ton über die Vorgänge an der Schule verlieren, bis er nicht solide Informationen hatte – und selbst dann würde er es vielleicht für sich behalten. Marlys war erschöpft. Holly musste sich darauf konzentrieren, gesund zu werden. Sich um P. J. und Augie zu sorgen wäre da nicht hilfreich. Also rief er seinen Sohn Todd an, dessen Frau die Lehrerin der vierten Klasse an der Schule war.
»Ich bin schon hier«, sagte Todd, als Will erwähnte, er sei auf dem Weg. Sie verabredeten, sich vor der Schule zu treffen.
Zur Broken Branch School war es eine zwanzigminütige Fahrt über Schotter- und Landstraßen, doch Will schaffte die Strecke in weniger als zwölf Minuten. Als er auf den Parkplatz einbog, sah er die Menschenmenge, die sich bereits gebildet hatte. Unhörbare Rufe erhoben sie aus der Gruppe und wurden vom Wind davongetragen. Will schaute zu seiner Mossberg, die auf dem Beifahrersitz neben ihm lag, und versuchte zu entscheiden, ob er sie mit rausnehmen sollte oder nicht. Ohrenbetäubende Rap-Musik dröhnte aus seinem Handy – Augie hatte sie als Klingelton installiert. Sie fand es lustig, wenn der Sturzbach an von Musik untermalten Flüchen mitten beim Abendessen losging oder, schlimmer noch, in der Öffentlichkeit, zum Beispiel im Café oder im Supermarkt. »Verdammt, Augie«, sagte er dann immer und drückte hektisch auf alle möglichen Knöpfe, um das Telefon zum Schweigen zu bringen.
»Was denn?«, erwiderte sie jedes Mal unschuldig. »Du sagst diese Wörter doch andauernd.«
P. J. nickte dazu ernst. »Das stimmt«, sagte er meistens.
»Hallo?«, bellte Will ins Handy.
»Will?« Die dünne Stimme klang so gar nicht nach Marlys. »Geht es dir gut?«
»Ja, ja. Wie geht es dir? Was macht Holly?« Während er sprach, schaute Will durch die Windschutzscheibe zu den vier Polizisten des Broken Branch Reviers, die versuchten, die wachsende Menschenmenge unter Kontrolle zu halten.
»Sie hat immer noch Fieber und isst nicht«, erklärte Marlys mit zitternder Stimme. »Wie geht es den Kindern?«
»Gut, gut«, sagte Will. »P. J. war mir eine große Hilfe beim Kalben. Er ist der geborene Rinderzüchter.«
»Und Augie?«
»Augie ist …« Will brachte es nicht über sich, etwas Schlechtes über seine Enkelin zu sagen, nicht im Moment, da er um ihre Sicherheit fürchtete. »Augie gibt sich Mühe«, beendete er seinen Satz schließlich. Was stimmte. Sie war vor ein paar Tagen sogar zu ihm und P. J. in den Stall gekommen, als Nummer hundertfünfunddreißig, eine prächtige Herfordkuh mit rot-weißem Fell, gekalbt hatte. Sie hatte mit großen Augen zugesehen, wie das Kälbchen aus dem Uterus seiner Mutter geplumpst war, noch ganz glitschig von der Nachgeburt, aber schon unverkennbar wunderschön.
»Ohhh«, hatte Augie mit glänzenden Augen gehaucht, und ein Lächeln
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