Bis zum letzten Atemzug
wenn Marlys und Holly es über das Fernsehen erfahren würden. Danach würde er vielleicht rüber zu Ray Craggs Farm fahren, um ihm einen nachbarschaftlichen Besuch abzustatten. Es würde sein Gewissen unheimlich beruhigen, zu wissen, dass sein Nachbar, ein Mann, der die Tochter einer guten Freundin der Familie geheiratet hatte, nicht dazu in der Lage wäre, eine Schule voller unschuldiger Kinder als Geiseln zu nehmen, nur weil seine Ehe in die Brüche gegangen war.
AUGIE
Die Schulglocke klingelt in dem Moment, als Mr Ellery Beth zurück zu ihrem Platz auf dem Fußboden neben mir bringt. Sie weint immer noch, aber leiser, nicht mehr so verzweifelt. »Es tut mir leid«, flüstere ich, und sie rückt so weit von mir ab wie nur möglich. Noah schenkt mir ein fieses Grinsen, und ich widerstehe dem Drang, ihm mit Mr Ellerys Zeigestab ins Auge zu pieken, den er auf seinem Tisch hat liegen lassen.
Über uns ertönt ein dumpfes Geräusch, erst leise, dann immer lauter. Ein rhythmisches Dröhnen, als wenn jemand eine Trommel schlägt. Oder seinen Kopf auf den Fußboden knallt. Alle Blicke fliegen nach oben. »Was ist das?«, fragt Beth. »Was ist da los?«
Mr Ellery kehrt zur Tür zurück und öffnet sie. Langsam. Vorsichtig. Das Hämmern geht weiter, wird härter, schneller. »Ich gehe mal nachsehen.« Er sieht uns an, als würde es ihm leidtun. »Ich glaube nicht, dass jemand verletzt wird«, versucht er uns zu beruhigen. »Ihr bleibt, wo ihr seid. Egal, was passiert, bleibt hier.« Er tritt auf den Flur hinaus, und die Tür fällt leise hinter ihm ins Schloss.
»Das ist verrückt«, sagt Noah in normaler Lautstärke, woraufhin ihn drei seiner Mitschüler auffordern, leise zu sein. »Was denn?«, fragt er.
»Sei still, Noah.« Amanda wirft einen ängstlichen Blick zur Tür. »Er könnte dich hören.«
»Das ist doch Bullshit.« Noah ignoriert Amanda und spricht noch lauter. »Aus dem Fenster kann ich Streifenwagen sehen. Lasst uns einfach rausklettern und weglaufen.«
»Was, wenn es mehr als eine Person ist?«, fragt Drew. »Was, wenn sie alle Waffen haben?«
»Das ist ja das Problem«, beharrt Noah. »Wir wissen gar nichts. Wir haben Handys, aber Mr Ellery lässt sie uns nicht benutzen. Wie sollen wir wissen, was wirklich los ist, wenn wir mit niemandem sprechen können?«
»Warum ist Mr Ellery noch nicht zurück?«, wundert sich Beth. Wir alle schauen zur Tür.
»Er hat uns vermutlich im Stich gelassen.« Noah schnaubt. »Typisch.«
»Er würde uns nicht einfach hierlassen, wenn er es nicht müsste«, sage ich wütend. Aber innerlich frage ich mich, ob das wirklich stimmt. Das Hämmern hat noch nicht aufgehört, und nicht weit von unserer Klasse entfernt gibt es einen Ausgang zum Lehrerparkplatz. Er könnte gut und gerne einfach aus unserem Klassenzimmer heraus und durch die Tür marschiert sein, sich in seinen Wagen gesetzt haben und einfach davongefahren sein.
»Aber wo ist er dann?«, will Amanda wissen. »Warum ist er noch nicht zurückgekommen?«
»Vielleicht hat er ihn erwischt?«, mutmaßt Felicia. »Vielleicht ist er erschossen worden.«
»Hast du einen Schuss gehört, Einstein?«, fragt Noah sarkastisch.
»Vielleicht haben sie Schalldämpfer oder Taser oder Baseballschläger. Vielleicht haben sie ihn auch als Geisel genommen«, werfe ich ein.
»Egal. Ich werde auf jeden Fall nicht warten, um es herauszufinden.« Er steht auf und geht zum Fenster, das mit einer dicken Frostschicht bedeckt ist, durch die man kaum etwas erkennen kann. Er haucht gegen das Glas, um ein Guckloch freizumachen. »Jupp, die gesamte Polizei da draußen.« Er dreht sich zu uns um. »Kommt irgendjemand mit mir?« Niemand sagt etwas. Sie schauen einander an, warten darauf, dass irgendjemand als Erstes spricht.
»Vielleicht warten wir besser auf Mr Ellery«, schlägt Drew vor.
»Der ist schon seit über zehn Minuten weg«, explodiert Noah. »Er ist gegangen! Wir interessieren ihn einen Scheiß. Er hat uns hier einfach uns selbst überlassen!« Noahs Gesicht ist ganz blass und vor Wut verzerrt, und zum ersten Mal erkenne ich, dass er genauso viel Angst hat wie wir alle. Das Klopfen über uns hat endlich aufgehört, und aus irgendeinem Grund macht mir das mehr Angst, als wenn es einfach weitergegangen wäre. Noah öffnet die beiden Schlösser an dem großen Fenster und zieht so lange am Rahmen, bis die Scheibe nach oben gleitet. Ein Schwall kalter Luft strömt in den Raum. Sie riecht neu und frisch und weht den verschwitzten
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