Bis zum letzten Atemzug
Augen waren zusammengekniffen, ihre Fersen schlugen zu jedem Wort auf den Boden.
»Das muss ein Witz sein«, murmelte der Mann. »Sorgen Sie dafür, dass sie aufhört.«
Mrs Oliver schaute ihn hilflos an. »Das kann ich nicht. Sie hat sich selber so in Rage gebracht, dass sie sich jetzt abreagieren muss. Das braucht Zeit.«
»Ich kann nicht denken, wenn sie so herumschreit.« Er schaute zu der Uhr mit den schwarzen Zeigern, die an der Wand über der Tür hing. Von ihrem Platz auf dem Fußboden konnte Mrs Oliver die Schuhe des Mannes sehen. Braune polierte Anzugschuhe. Gut, aber nicht zu teuer. Nicht die Schuhe eines Verrückten, dachte sie. Einen kurzen Moment verließen die Schuhe den Boden, dann wurde die Uhr von der Wand gerissen und krachte auf den Boden. Die Scheibe sprang, die schwarzen Zeiger blieben auf der Eins und der Fünf stehen. Das plötzliche Geräusch brachte die immer noch brav auf ihren Stühlen sitzenden Schüler erneut zum Weinen, aber Lucys Schreie blieben ihr in der Kehle stecken, und sie verstummte. Mrs Oliver sah panisch zu, wie Lucys Gesicht in einem kränklichen Blau anlief. Sie bereitete sich darauf vor, sie umzudrehen und ihr auf den Rücken zu schlagen, als sie ein gurgelndes Geräusch hörte. Mit weit aufgerissenen Augen atmete Lucy tief ein und fing dann wieder an, zu schreien und mit ihren Fersen den Fußboden zu bearbeiten.
»Mein Gott«, sagte der Mann. »Wo führt die hin?« Er zeigte auf die Tür in der einen Ecke des Klassenzimmers.
»In einen Einbauschrank«, erwiderte Mrs Oliver mit lauter Stimme, um Lucys Schreie zu übertönen. »Die andere Tür ist der einzige Weg nach draußen.« Sie hoffte so sehr, dass der Mann wenigstens Lucy würde gehen lassen.
»Mach sie auf«, befahl er dem Jungen, der dem Schrank am nächsten saß. Der Junge saß starr vor Angst da, sein Blick huschte zwischen Mrs Oliver und dem Mann hin und her; er war nicht sicher, was er tun sollte.
Mrs Oliver nickte dem Jungen zu, der sich fahrig von seinem Stuhl erhob, die Hand auf den Türknauf legte und die Tür so schnell aufzog, als hätte er einen Schlag bekommen. Dann setzte er sich wieder hin. Der Mann streckte die Arme aus, hob Lucy hoch, trug sie zu dem Schrank, legte sie dort auf den Boden, schloss die Tür und sicherte sie, indem er einen Stuhl unter die Klinke schob.
»Das können Sie nicht tun«, protestierte Mrs Oliver. »Das werde ich nicht zulassen.« Sie erhob sich mit knackenden Knien, stand einen Moment schwankend da, bis sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Der Mann war in drei großen Schritten bei ihr, packte die Vorderseite ihres Kleides, sodass einige der aufgestickten Strasssteine durch die Luft flogen, und zog sie mit sich in den vorderen Bereich des Raumes.
»Setzten Sie sich«, befahl er. »Oder Sie werden ebenfalls im Schrank landen.« Lucys Schreie waren gedämpft, aber immer noch gut hörbar. Sicher hört sie irgendwer, dachte Mrs Oliver. Da draußen musste doch jemand sein, der ihnen helfen würde. Sie drängte ihre Tränen zurück und schalt sich innerlich für diese unangebrachte Zurschaustellung von Gefühlen. In dreiundvierzig Jahren als Lehrerin hatte sie nicht ein einziges Mal vor ihren Schülern geweint. Nicht beim herzerweichenden Ende von Shiloh, das sie den Kindern laut vorgelesen hatte und was zu einem Klassenraum voll in Tränen aufgelöster Schüler geführt hatte. Nicht, als Mr Dutcher an die Tür kam und sie darüber informierte, dass Shirley Ouderkirk, die Lehrerin der achten Klasse, mit der sie seit Jahren zusammengearbeitet hatte, auf dem Weg zur Schule bei einem Autounfall gestorben war. Und sie weinte auch nicht am 11. September, als alle anderen Lehrer die Nachrichten auf den Fernsehgeräten in ihren Klassenzimmern laufen hatten. Es war gar nicht mal so sehr, dass sie Tränen als Schwäche empfand. Es ging mehr darum, dass sie hart daran gearbeitet hatte, ihre Gefühle und ihren Job als Lehrerin strikt getrennt zu halten. Sie hatte zu viele missbrauchte Kinder gesehen, Schüler von ihr waren an fürchterlichen Krankheiten gestorben, sie hatte mit ansehen müssen, wie ihre Schüler unter Scheidungen litten oder einfach unter Liebeskummer, der für einen Achtjährigen unerträglich schien. Es war nicht so, dass es sie nicht interessierte; ganz im Gegenteil, wie sie in diesem Augenblick erkannte. Aber was brächte es den Kindern, ihre Lehrerin als weinendes Häufchen Elend auf dem Fußboden hocken zu sehen?
MEG
Als ich wieder bei Chief McKinney
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