Bis zum letzten Atemzug
Geruch nach Angst von dreiundzwanzig Dreizehnjährigen davon. Einer nach dem anderen erheben wir uns und gehen ans Fenster. Sogar ich. Mit beiden Händen drückt Noah gegen das Fliegengitter, das uns von der Freiheit trennt, doch es gibt nicht nach. Mehrere Hundert Meter entfernt haben die Officers, die sich auf dem Parkplatz versammelt haben, anscheinend bemerkt, dass in unserem Klassenzimmer irgendetwas vor sich geht. Mehrere von ihnen ziehen ihre Waffen.
»Vorsichtig!«, sage ich zu Noah, bevor ich mich zurückhalten kann, und er schaut mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Drew stellt sich neben ihn, und gemeinsam drücken sie gegen das Fliegengitter, bis es schließlich auf die Erde fällt. Einer nach dem anderen klettern meine Klassenkameraden durch das Fenster und laufen so schnell sie können in Richtung der Polizisten. Rufe ertönen, und ich sehe Noah und Drew kurz anhalten und ihre Hände in die Luft strecken. Die anderen tun das Gleiche. Ich bin mir unsicher, ob ich ihnen folgen soll oder nicht. Jetzt kommen Leute und legen Decken um Noahs und Tommys Schultern. Mehr als alles will ich auch eine Decke um die Schultern haben. Ich würde sogar gerne meinen Großvater sehen. Ich hieve mich auf die Fensterbank, schwinge ein Bein nach draußen und werfe noch einen Blick über meine Schulter. Beth ist als Einzige noch im Raum. »Kommst du?«, frage ich sie. Sie beißt sich auf die Lippe und schüttelt den Kopf.
»Ich muss erst wissen, ob es mein Dad ist«, sagt sie heiser.
Eine Polizistin winkt mir aus der Ferne zu, ihre Arme wirbeln wie Windmühlenflügel. »Komm schon«, ruft sie mir zu.
Ich denke an P. J. Er muss immer auf Toilette, wenn er nervös ist oder Angst hat. Das Letzte, was mein Bruder braucht, ist sozialen Selbstmord zu begehen, weil er sich vor seinen Klassenkameraden in die Hose macht. Ich sehe die Polizistin an und schüttele meinen Kopf. Sie lässt die Arme sinken, und selbst aus dieser Entfernung kann ich den ungläubigen Blick in ihrem Gesicht erkennen. Ich drehe ihr und der Freiheit, die der Lehrerparkplatz verspricht, den Rücken zu. Beth sieht mich an, wartet ab, was ich tun werde. Ich strecke meine Hand aus, Beth ergreift sie und zieht mich ins Klassenzimmer zurück.
HOLLY
Meine Mutter döst in dem Stuhl, der neben meinem Krankenbett steht. Ich sage ihr immer wieder, dass sie doch für ein paar Stunden in das kleine Apartment gehen soll, das sie ein paar Straßen weiter gemietet hat, um mal richtig zu schlafen, aber sie winkt immer nur ab und sagt: »Schlafen kann ich später noch genug.« Was typisch für sie ist. Ich glaube, ich habe meine Mutter während meiner Jahre auf der Farm nicht ein einziges Mal schlafend gesehen. Sie war immer schon wach, wenn ich morgens aufgestanden bin, und ich bin immer vor ihr ins Bett gegangen. Nicht einmal am Muttertag ist es uns gelungen, vor ihr aus den Betten zu krabbeln, um ihr Frühstück ans Bett zu bringen.
Meine früheste Erinnerung an die Farm ist, dass ich außerhalb des Zaunes gestanden habe, hinter dem die Kühe gehalten wurden, und zusah, wie Frisbee, unser Hund, zwischen ihren Knien hin und her gelaufen ist. Mein Vater hatte mich immer gewarnt, mich ja von dem Pferch und vor allem von den neu angekommenen Rindern fernzuhalten, die immer sehr ängstlich waren und beim kleinsten Geräusch oder einer falschen Bewegung sofort zum anderen Ende der Koppel rannten.
Ich trug ein Sommerkleid in der Farbe des blassblauen Himmels und dazu schmutzverkrustete Stiefel. Es war ein milder Sommertag, und ab und zu hob eine leichte Brise den Saum meines Kleides, und ich drückte ihn kichernd wieder herunter. Ich schaute Frisbee zu, der mit ganz geradem Rückgrat unbeweglich in der Mitte der Koppel stand. Selbst ich mit meinen vier Jahren wusste, dass Frisbee nichts Gutes im Schilde führte. Kühe sind sehr neugierig, und so näherten sie sich langsam, Schritt für vorsichtigen Schritt, Frisbee, der sich immer noch nicht rührte. Eine Kuh von der Farbe der Anisbonbons, die mein Vater immer in der Tasche hatte, beugte ihren Kopf so weit hinunter, dass ihre breite Nase seine berührte. Es sah aus, als wollte sie ihm einen Kuss geben. Frisbee sprang in die Luft und schnappte der nichts ahnenden Färse in die Nase, was sie und die anderen Kühe erschrocken in die andere Ecke der Koppel stürmen ließ. Frisbee sprang daraufhin freudig durch den Pferch, angefeuert von meinen fröhlichen Rufen, und kehrte dann in die Mitte zurück, um das Spiel von
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