Bis zum letzten Atemzug
meinen kleinen Bruder holen«, erklärt sie mir durch die geschlossene Glastür. »Tut mir leid.«
»Verdammt!« Ich drehe mich um und sehe, dass sich mehrere Officer versammelt haben. Faith ist in der Menge verschwunden. »Mach die Tür auf, Augie«, sage ich laut, damit sie mich hört. »Ich helfe dir, deinen Bruder zu finden.«
Sie schüttelt den Kopf. »Das kann ich nicht. Tut mir leid.« Damit dreht sie sich um.
»Augie, bitte.« Ich flehe sie an, versuche, meine Stimme weicher klingen zu lassen. »Mach die Tür auf. Ich kann dich in Sicherheit bringen. Glaubst du wirklich, du kannst einen bewaffneten Mann überwältigen? Weißt du überhaupt, wo er sich aufhält?«
Sie schaut mich an und geht rückwärts immer weiter in die Sporthalle hinein. Tränen schimmern in ihren Augen. Sie sagt etwas, aber ich kann sie durch das dicke Glas nicht mehr verstehen.
»Komm da sofort raus!«, rufe ich.
Sie dreht sich nicht um und verschwindet immer schneller aus meinem Blickfeld. Einen Moment lang überlege ich, mir den Weg ins Gebäude freizuschießen, doch stattdessen nehme ich den Basketball und werfe ihn so weit wie ich kann ins Maisfeld.
Ich war so nah dran, aber dann habe ich sie verschreckt. Das war schon immer meine größte Schwierigkeit als Polizistin. Die richtige Balance zwischen hart und weich zu finden. Sehr früh auf meinem Berufsweg habe ich gelernt, dass ich zäh sein muss, kein Zeichen von Schwäche zeigen darf. Ich habe mir als Frau genug Mist von meinen Kollegen auf der Polizeiakademie anhören müssen. Auf gar keinen Fall hätte ich zugelassen, dass man mir auch noch nachsagt, ein Weichei zu sein. Was auch niemand getan hat. Ich habe gewalttätige, zahnlose Junkies in Handschellen gelegt, Auge in Auge mit bewaffneten Räubern gestanden und mir sogar eine gebrochene Nase und sechsundzwanzig Stiche im Arm eingefangen, als ich versucht habe, einen Streit in einer Bar zu schlichten. Ich habe so hart daran gearbeitet, stark zu wirken, ich vergesse manchmal, dass es als Polizistin Zeiten gibt, in denen ein sanfterer Ansatz gefragt ist. Jetzt ist dieses junge Mädchen, die vielleicht einzige Person, die uns sagen kann, was in der Schule los ist, weg, und ich bin diejenige, die sie hat gehen lassen. Ich habe das Mädchen genauso im Stich gelassen wie Jamie Crosby.
JETZT REDE ICH,hatte die Schlagzeile gelautet. Vermeintliches Vergewaltigungsopfer spricht über ihr traumatisches Zusammentreffen mit dem Ehemann unserer Kandidatin für den Gouverneursposten. Von Stuart Moore. Mir gefror das Blut in den Adern.
An dem Abend, an dem ich zu den Crosbys gerufen worden war, hatte ich es nach einer Stunde des Betteins und Flehens endlich geschafft, Jamie davon zu überzeugen, das Zentrum für Vergewaltigungsopfer in Waterloo aufzusuchen – Jamie bestand darauf, nicht in ein örtliches Krankenhaus zu gehen –, wo man sie untersuchte und Beweise sammelte. Erst drei Tage später nannte Jamie den Namen ihres Angreifers: Matthew Merritt, der Ehemann der Gouverneurskandidatin Greta Merritt. Jamie hatte fürchterliche Angst. Sie war überzeugt, niemand würde ihr glauben, dass der allseits beliebte zukünftige erste Ehemann im Staate Iowa fähig wäre, eine schlichte, leicht übergewichtige neunzehnjährige Babysitterin im eigenen Haus zu überwältigen und zu vergewaltigen, während seine wunderschöne Frau auf Wahlkampfreise war. Mir brach es das Herz. Ich wusste, das waren nicht Jamies Worte, sondern vermutlich Matthew Merritts giftige Drohung, um das Stillschweigen des Mädchens zu sichern. Ich versprach Jamie, dass ich ihre Identität geheim gehalten würde, dass die Beweise, die die Krankenschwester gesammelt hatte – die Abstriche, die Hautfetzen unter den Fingernägeln, die Fotos von ihren blauen Flecken –, für ein Verfahren mehr als ausreichen würden.
Irgendwie ist Stuart an Jamie herangekommen. Irgendwie hat er erfahren, dass sie das Vergewaltigungsopfer war. Jeder im Staat, ach was, jeder im gesamten Mittleren Westen wusste, dass gegen Matthew Merritt wegen des Verdachts der Vergewaltigung ermittelt wurde. Aber niemand wusste, dass Jamie sein Opfer war. Doch Stuart hat es irgendwie herausgefunden. Vermutlich durch mich. Und nun besitzt er tatsächlich die Frechheit, zu versuchen, mir ein Statement für seine nächste große Geschichte zu entlocken. Da kann er lange warten.
MRS OLIVER
»Hey, weg da!«, brüllte der Mann Mrs Oliver an, die noch ein wenig an der Tür stehen geblieben war, nachdem alle
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