Bis zum letzten Atemzug
Schüler von der Toilette zurückgekehrt waren und wieder auf ihren Plätzen saßen. Sie sah zwei Mädchen, eines ein Teenager, das andere sehr viel jünger, die den Flur entlang auf sie zuschlichen, und winkte sie hektisch weg, bevor sie die Tür schloss. Hoffentlich würden die beiden schnell aus dem Blickfeld verschwinden. Die Anspannung des Mannes wuchs von Minute zu Minute. Er wirkte wie ein gefangener Vogel, der nervös von einer Zimmerecke in die andere flatterte. Seine Waffe klatschte immer unregelmäßiger gegen sein Bein. Mrs Oliver hoffte, dass sie gesichert war. Sie kehrte zu ihrem Platz in der ersten Reihe zurück. Ihr war wohl bewusst, je nervöser der Mann war, desto wahrscheinlicher war es, dass irgendetwas Schlimmes geschehen würde.
Es war beinahe zwei Uhr. Noch nicht so spät, als dass Cal sich Sorgen über ihren Verbleib machen würde. Vermutlich hatte er schon wieder vergessen, dass heute eigentlich früher Schulschluss war. Außerdem verbrachte Mrs Oliver oft ein paar Extrastunden in der Schule, um Lehrpläne zu erstellen, Arbeiten zu bewerten, eine neue Pinnwand anzubringen. Er überlegte im Moment vermutlich, ob er sich einen Teller von dem Eintopf gönnen sollte, der den ganzen Tag in dem Schmortopf vor sich hin köchelte, oder nicht. Er war bestimmt hungrig, aber er hasste es, allein zu essen. Nein, vermutlich hatte er die Temperatur am Herd schon heruntergedreht und sich ein Stück Cheddar abgeschnitten, um sich über Wasser zu halten, bis sie nach Hause kam.
Es war Fügung, dachte Evelyn, dass Mrs Ford vor sechsundvierzig Jahren Cal eingeladen hatte, sich auf eine Scheibe Bananenbrot zu ihnen zu setzen, das gerade warm und luftig aus dem Ofen gekommen war. Dazu stießen sie mit einem Glas selbst gemachter Limonade auf die erfolgreiche Reparatur der Waschmaschine an. Gemeinsam mit Mrs Ford hatten sie in der sonnigen Frühstücksecke gesessen, kleine Bissen von dem duftenden Kuchen gegessen und kleine Schlucke Limonade getrunken. Cal hatte aufmerksam zugehört, als Mrs Ford sich in ihren üblichen Geschichten über George verlor. Evelyn hatte gedacht, es nicht mehr zu ertragen, zu hören, dass George als Kind Scharlach hatte und wie sehr Mrs Ford und ihr Mann gefürchtet hatten, ihn zu verlieren. Oder dass George ausgewählt worden war, die Rede für seinen Jahrgang zum Highschool-Abschluss zu halten. Es zerrte an ihrem Herzen, aber sie merkte auch, es war nicht ganz so schlimm wie sonst. Im Gegenteil, zuzuhören, wie Mrs Ford jemand anderem von George erzählte, war sogar recht angenehm. Cal schien ehrlich interessiert und stellte genau an den richtigen Stellen die richtigen Fragen.
Mrs Ford rief Cal in den folgenden zwei Monaten noch drei Mal an, um ihn zu bitten, etwas an der Waschmaschine zu reparieren. Jedes Mal leistete Evelyn ihm im Keller Gesellschaft, reichte ihm Werkzeug an und sprach mit ihm über Politik und Bücher. Irgendwann rief Mrs Ford die Kellertreppe hinunter, dass die Kekse gerade fertig wären und sie nach oben kommen sollten, während sie noch heiß waren. Dann saßen sie wieder zu dritt am Tisch. Mrs Ford schwelgte in Erinnerungen an George, und am Ende des Besuchs sah Evelyn eine neue Leichtigkeit in Mrs Fords Miene.
Eines kalten Nachmittags im Winter, ein paar Wochen, nachdem Cal die Waschmaschine endgültig für tot erklärt hatte und eingestehen musste, dass alle weiteren Wiederbelebungsversuche lediglich dazu dienen würden, Mrs Fords Portemonnaie zu erleichtern, was er nicht guten Gewissens tun könne, lud Mrs Ford ihn zum Abendessen ein. Evelyn hatte den Bus nach Hause genommen, nachdem sie sich tagsüber für die verschiedenen Kurse am College eingetragen hatte. Die Collegegebühren hatte sie mit dem Geld aus Georges Lebensversicherung bezahlt. Erst hatte sie Mr und Mrs Ford das Geld angeboten, denn immerhin hatten sie eine größere Rolle in seinem Leben gespielt als sie. Aber sie hatten ihr versichert, George hätte gewollt, dass sie ihre Ausbildung weitermache. Evelyn war bereits ein halbes Jahr hinter den anderen Studenten zurück, weil sie nach Erhalt der Nachricht von Georges Tod ihr Studium erst einmal unterbrochen hatte, aber sie war entschlossen gewesen, gemeinsam mit ihren Kommilitonen den Abschluss zu machen. Erschöpft ging sie den Weg von der Bushaltestelle zum Haus der Fords. Obwohl man noch nichts von ihrer Schwangerschaft sah, spürte sie, wie das Kind ihr alle Nährstoffe raubte. Sie wollte nur noch ihre Gummistiefel ausziehen, aus dem
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