Bis zur letzten Luge
sie ihre winzigen Augen geschlossen hatte. Das Nachtgebet war gesprochen. Seit ihrer Auseinandersetzung mit Schwester Marie Baptiste hatte niemand mehr darauf bestanden, dass sie an den regelmäßigen Andachten teilnahm. Aber ihr war klar, dass man sie, sobald Clarissa weg war, wieder dazu auffordern und das niemals aufhören würde.
Die Flure im Kloster waren leer und still. Die Schwestern hatten sich bereits in ihre Klosterzellen zurückgezogen. Sie versuchte sich nicht vorzustellen, was hinter den verschlossenen Türen vorging – die Gebete, die Geißelungen. Irgendwannwürden die endlosen Rituale auch ihr Frieden bringen.
Sie bedeckte ihren Kopf mit einem Schal und schob alle herausstehenden Haarsträhnen unter den Stoff, ehe sie die Kapelle betrat. Einen Moment lang flackerte Widerstand in ihr auf. Sie fragte sich, warum der tyrannische Gott, der zugelassen hatte, dass sie ein Kind auf die Welt brachte, nur um es wieder weggeben zu müssen, sich durch einen unbedeckten Kopf beleidigt fühlte. Doch sie verbannte das Gefühl schnell wieder. Sie war dafür verantwortlich, nicht Gott. Sie hatte vor der Ehe mit einem Mann geschlafen; Clarissa weggeben zu müssen war ihre Strafe.
Sie tauchte ihre Finger in das Weihwasserbecken und bekreuzigte sich, ehe sie das Knie beugte. Auf dem Altar brannte das Ewige Licht. Den Kopf ehrfürchtig gesenkt, ging sie nach vorn.
Mit gesenktem Kopf kniete sie sich auf die Bank. Sie hatte so viele Gebete, so viele Sünden, für die sie um Vergebung bitten wollte. Sie machte das Kreuzzeichen und faltete die Hände. Erst jetzt blickte sie zum Altar. Zuerst konnte sie dort nichts Ungewöhnliches entdecken. Er war sehr schlicht, bedeckt mit sauberem weißen Leinen und geschmückt mit poliertem Silber. Der Orden war arm, das Kloster nicht gut ausgestattet. Die Schwestern stammten größtenteils aus armen Familien vom Bayou, die sich nur eine kleine Aussteuer hatten leisten können. Die Leinendecke war von einer erfahrenen Schneiderin genäht worden, und das Silber war nur versilbert.
Das alles war nicht wichtig. Gott war hier genauso zu spüren wie in der mächtigsten Kathedrale. Er war hier, um ihr die Kraft und den Mut zu geben, sich dem zu stellen, was ihr bevorstand, und die Stärke, mit der Entscheidung weiterzuleben. Sie glaubte an seine Macht, ebenso wie sie fürchtete, dass das Gift, das in ihr wütete, seine Stimme vielleicht zum Schweigen gebracht hatte.
Sie schlug die Augen nieder. Aber im selben Moment brachte ein leichtes Funkeln von Silber in dem sanften Licht sie dazu, den Blick wieder zu heben. Sie starrte auf das Kreuz, das mitten auf dem Altar lag. Es war nicht das Kreuz, das noch gestern dort gelegen hatte. Sie hatte dieses Kreuz schon einmal gesehen, hatte es in ihren Händen gehalten. Es war aus massivem Silber, war verziert, im spanischen Stil handgefertigt. Zum letzten Mal hatte sie es in der Nacht gesehen, als ein Mann eine Kiste mit einem Piratenschatz geöffnet und ihr ein neues und perfektes Leben versprochen hatte.
Étienne kam am nächsten Morgen. Sie saß neben Clarissas Korb und wartete auf ihn. Die Kleine schlief, doch sie nuckelte von Zeit zu Zeit an ihrer Faust – ein Ersatz für die Mutter, die sie sanft von der Brust genommen hatte.
Schwester Marie Baptiste begleitete Étienne in das Zimmer. Am Morgen hatte sie Aurores Fragen über den Mann beantwortet, der das unbezahlbare Kreuz in der Erinnerung an seine verstorbene Mutter gespendet hatte. Aurore hatte ihr gesagt, dass sie sich mit dem Mann treffen würde, falls er noch einmal zurückkehren und um ein Treffen mit ihr bitten würde.
Schwester Marie Baptiste zog sich zurück, und Aurore blickte ihn an.
„Wir haben eine Tochter“, sagte er.
„Ich habe eine Tochter. Ich habe nichts mit dir gemeinsam.“
„Ich habe dir gesagt, dass ich sie abholen würde.“
„Ja.“
„Hast du tatsächlich geglaubt, du könntest mir entkommen?“
„Meine Dummheit scheint grenzenlos zu sein.“
„Schwester Marie Baptiste meint, dass du bald dein Gelübde ablegst.“
„Schwester Marie Baptiste irrt sich. Ich habe gemerkt,dass nicht einmal Gott mir helfen kann, dir und dem Bösen, das du über mich gebracht hast, zu entfliehen.“ Sie musterte sein Gesicht. Es hatte sich nicht verändert. Sie fragte sich, was sie dort zu sehen geglaubt hatte.
„Und unsere Tochter?“
„Ti’Boo hat eine Familie gefunden, die sie aufnehmen und als ihr eigenes Kind großziehen wird. Mein Vater ist tot, und mein Leben
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