Bis zur letzten Luge
ihres Lebens die Kontrolle über sie haben würde. Schwester Marie Baptiste, deren Launen das Kreuz wären, das Aurore tragen musste, bis sie Gott von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand.
„Es ist mein Kind“, sagte Aurore leise. „Nur noch zwei Wochen, dann werde ich sie niemals wiedersehen. Sind Sie so herzlos, so leer und ohne jedes menschliche Gefühl, dass Sie kein Mitgefühl mehr empfinden?“
Schwester Marie Baptiste antwortete nicht. Sie verschwand in der Dunkelheit und ließ Aurore zurück, um über die kommenden Jahre nachzudenken.
Ihnen waren zwei gemeinsame Wochen gewährt worden, denn es wurde für das Beste für die Gesundheit des Kindes gehalten, wenn es so lange von der Mutter gestillt wurde. Aurore hatte schnell Milch gehabt, und jedes Mal, wenn Clarissa unruhig wurde, spürte Aurore, wie ihre Brüste sich spannten und beinahe unerträglich pulsierten, bis Clarissa zu trinken begann.
Sie erzählte Clarissa alle Geschichten aus ihrer Kindheit. Von Ti’Boo und dem Hurrikan, von grand-père Antoine, von ihrem Vater und der stolzen Reederei, die einmal ihr Erbe gewesen war. Einmal wollte sie ihrer Tochter versichern, dass sie in Liebe empfangen worden war, doch die Worte bliebenihr im Halse stecken. Die Nacht auf der Dowager und andere Nächte, die gefolgt waren, waren die Erinnerungen einer anderen Frau.
Ti’Boo kam am Anfang der zweiten Woche noch einmal vorbei und brachte Pelichere mit, die mit ihren acht Monaten schon auf Händen und Knien Aurores winziges, stickiges Zimmer durchqueren konnte. Aurore wusste, dass Ti’Boo sie aufmuntern wollte. Aber die Anwesenheit von zwei GilbeauFrauen, die am glücklichsten waren, wenn sie nicht weit voneinander entfernt waren, erfüllte Aurore mit Verzweiflung. Ti’Boo dachte, sie würde die Trauer kennen, die Aurore empfinden würde, wenn man ihr Clarissa wegnahm. Doch sie hatte keine Ahnung, wie verzweifelt Aurore schon jetzt war.
Genauso wenig wusste sie, wie sehr Aurore Clarissas Vater hasste. Von Tag zu Tag wuchs dieser Hass; und je näher sie seinem Kind kam, desto sehnlicher wünschte sie sich, Rache nehmen zu können. Seine Wurzeln trennten sie von ihrem Kind. Er hatte ihre Zukunft zerstört. Nun musste sie ihr Leben hinter den Mauern eines Klosters verbringen. Nur das träge Wasser eines Bayous würde sie an den Fluss erinnern, den ihre Familie einmal beherrscht hatte, und an das Leben, das ihr genommen worden war.
Ein Lichtblick erhellte die Dunkelheit jener Wochen, in denen Aurore fürchtete, Étienne könnte seinen Schwur, dass er ihr Kind zu sich holen würde, wahr machen. Sie war lange genug in New Orleans geblieben, um bei der Beerdigung ihres Vaters dabei sein zu können und um sicherzugehen, dass Tim Gilhooley die rechtliche Befugnis hatte, alles zu retten, was er aus der Katastrophe, die Gulf Coast widerfahren war, noch retten konnte. Dann war sie aufgebrochen und über viele Umwege schließlich ins Kloster gekommen. Dabei hatte sie darauf geachtet, ihren eigenen Weg immer wieder zu kreuzen und einen solchen Zickzackkurs zu verfolgen, dass jeder, der sie aufspüren wollte, vollkommen verwirrt sein musste.
Wenn Étienne gewusst hätte, wo sie war, wäre er schon längst aufgetaucht. Dass er sich nicht hatte blicken lassen, war für sie der Beweis, dass sie ihn besiegt hatte. Er würde ihre Tochter niemals zu Gesicht bekommen und erst recht kein Mitspracherecht an ihrer Zukunft haben. Sie wünschte sich nur, ihm gegenübertreten und sagen zu können, dass sie, wenn sie auch sonst nichts erreicht hätte, zumindest in dieser Sache gewonnen hätte.
Am Abend bevor Clarissa ans Delta gebracht werden sollte, bereitete Aurore sich darauf vor, in die Kapelle zu gehen und zu beten. Am nächsten Tag würde sie ihr Kind weggeben. In der darauffolgenden Woche würde sie in einer Zeremonie, die so alt war wie der Orden selbst, ihre Freiheit aufgeben. Sie wollte um Vergebung und darum bitten, dass das Gift, das sie durchströmte, eines Tages weniger werden würde.
Sie betete auch für Clarissa. Jeden Tag, für den Rest ihres Lebens, würde sie Gebete für ihre Tochter sprechen. Lieber Herr Jesus, lass Clarissa Frieden und Glück finden. Liebe Mutter Maria, pass immer auf sie auf. Lieber Vater, lass meine Tochter spüren, dass ihre Mutter sie geliebt hat und dass sie das Beste getan hat, was sie konnte.
Clarissa schlief, als Aurore ihr Zimmer verließ. Aurore hatte ihre Tochter gerade gestillt und sie anschließend hin und her gewiegt, bis
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