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Bis zur letzten Luge

Bis zur letzten Luge

Titel: Bis zur letzten Luge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richards Emilie
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sagen wollte. „Und, ja, ich weiß, dass Sie nicht dafür bezahlt werden, mich zu verurteilen. Ich weiß auch, dass Sie es trotzdem tun werden. Wie könnten Sie mich nicht verurteilen?“
    Er nickte, obwohl er damit nicht so sehr seine Zustimmung ausdrücken, sondern sich vielmehr verabschieden wollte. Damit ging er.
    Die Straßen von New Orleans waren feucht und glatt. Nicky hatte Phillip einen Wagen geliehen, den er benutzen konnte, solange er in der Stadt war. Es war ein beigefarbener Kleinwagen, der so unscheinbar war, dass Phillip nicht einmal wusste, welcher amerikanische Autogigant ihn hergestellt hatte. Weit unter der vorgeschriebenen Geschwindigkeit wich er Fußgängern und Fahrern aus, die von kurzen Adrenalinkicks zu leben schienen – wie die ganze Stadt.
    An der North Rampart Street, nicht weit vom Club Valentine entfernt, fand er einen Parkplatz. Trotz des leichten Nieselregens ließ er sich Zeit und hatte es nicht eilig. Als erzur Basin Street kam, erstreckte sich vor ihm das Iberville Project , so weit das Auge reichte. Es war das zweitälteste soziale Wohnungsbauprojekt der Nation: rote Ziegelsteinhäuser, geschmückt mit Eingangstreppen und Balkonen. Die Architekten hatten sich am Lebensstil der Menschen, die dort wohnen sollten, orientiert. Und sie hatten sich geweigert, vor den Bürokraten in Washington zu kuschen, die sich über die gedankenlose Verschwendung von Steuergeldern beklagt hatten.
    Die Basin Street war eine kurze, unbedeutende Straße. Das war allerdings nicht immer so gewesen. Früher hatte sie eine der Grenzen von „Storyville“ markiert, dem offiziellen Rotlichtviertel der Stadt. Respektlos nach Mr Alderman Sidney Story benannt, war der Bezirk 1897 vom Rest der Stadt abgetrennt worden. Man wollte damit sicherstellen, dass die Prostitution nicht auch in anderen Stadtteilen aufblühte. Die Einwohner der Stadt atmeten erleichtert auf. Endlich konnte man diesen Teil der Stadt, der dem Laster überlassen worden war, meiden – und so tun, als ginge es in den Straßen von New Orleans anständig zu.
    Bis 1917 erlebte der Stadtteil seine Blütezeit. Zu Beginn hatten mehr als zweitausend Prostituierte innerhalb des Stadtviertels gearbeitet, und es hatte zusätzlich Tausenden von Menschen ihren Lebensunterhalt gesichert. Grundstücke in Storyville waren die teuersten in der ganzen Stadt und die beste Möglichkeit, um Geld anzulegen. So machte manch würdevoller Nachkomme einer bekannten Familie ein Vermögen. Zwar waren diese Leute keine Kunden in den Häusern, hatten jedoch keine Bedenken, sie zu kaufen und zu vermieten.
    Storyville lebte mit seinem Rummel und seinen Spelunken in der Erinnerung weiter, auch wenn es in der Realität nicht mehr existierte. Wie ein Monster hatte das Iberville Project ganz Storyville verschluckt.
    Phillip wusste nur sehr wenig über die Kindheit seiner Mutter. Er wusste, dass sie in der Basin Street gelebt hatte und dann irgendwann gegen Ende der Blütezeit von Storyville hierhergekommen war. Nur selten hatte sie von dieser Zeit erzählt und nie besonders viel preisgegeben. Sie hatte keine lebenden Verwandten mehr. Ein Jazzpianist namens Clarence Valentine hatte sie aufgezogen; er war für sie wie ein Großvater gewesen. Er war kurz nach Phillips Geburt in Paris gestorben. Phillip und sie waren allein gewesen, bis später Jake zu ihnen gestoßen war – eine willkommene Ergänzung.
    Phillip hatte nicht viel Zeit damit verbracht, darüber nachzugrübeln, dass er keine weitere Familie hatte. Er war mit wohlhabenden Europäern zur Schule gegangen, die ihre Bediensteten oftmals besser gekannt hatten als ihre eigenen Eltern. Er selbst hatte seinen Vater nie kennengelernt, der Nicky schon vor Phillips Geburt verlassen hatte. Und in der Zeit, die er bei Nicky verbracht hatte, waren die Musiker ihrer Band Ersatzonkel und -großväter geworden. Das Verwöhnen, aber auch die Erziehung waren nie zu kurz gekommen.
    Jetzt wollte er mehr wissen. Aurore Gerritsens Geschichte hatte sein Interesse an seiner eigenen Geschichte geweckt. Zum ersten Mal fühlte er sich, als fehlten ihm die Wurzeln, wie bei einer exotischen Orchidee, die ohne Erde gezogen worden war. Vielleicht hatte auch die immer ernster werdende Beziehung zu Belinda ihm gezeigt, wie oberflächlich sein Leben war. Vielleicht hatte auch Belindas Verlangen, enger mit ihrer afrikanischen Herkunft verbunden zu sein, ihn beeinflusst. Doch seine Verwandten in diesem Land – die Nachfahren von Männern und Frauen,

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