Bis zur letzten Luge
Buch zu. „Tja, das hat mein Ehemann immer getan. Er ist zu einem Buchhändler in der Royal Street gegangen und hat alles gekauft, was Sie hier in den Regalen sehen, ohne auch nur eine Seite davon zu lesen. Er hat den gesamten Inhalt der Bibliothek eines Philosophieprofessors gekauft, weil ihm die Farbe der Ledereinbände so gut gefallen hat.“
„Ein Mann, dem der äußere Anschein wichtig war?“ „Henry Gerritsen war vieles.“ Sie stellte das Buch zurück und nahm ein anderes aus dem Regal. „Wie sich herausgestellt hat, war der Erwerb der Bücher eine der besseren Taten, die er in seinem Leben vollbracht hat. Henry war kein Geistesmensch, aber unser Sohn Hugh hat diese Bücher verschlungen – wie auch sonst alles, was er in die Finger bekommen hat.“
„Ist Ihr anderer Sohn auch ein unersättlicher Leser?“
Sie sah ihn nicht an. „Ferris hatte nie die nötige Geduld.
Er hat sie noch immer nicht, auch wenn er genauso intelligent ist wie sein Bruder.“
„Ich habe von Anfang an gedacht, dass der Unterschied zwischen Ihren beiden Söhnen der Grund dafür sein könnte, dass Sie mich hierher eingeladen haben. Dass Sie vielleichtversuchen wollen, sich irgendwie auf Hughs Seite zu stellen, indem Sie einen schwarzen Mann bitten, Ihre Geschichte niederzuschreiben.“
Sie war überrascht, dass er noch immer nicht hinter den wahren Grund gekommen war. Und die Tatsache, dass ihm das noch nicht gelungen war, sagte einiges über die Geheimnisse in seinem Leben. „Mich auf irgendjemandes Seite zu stellen war nie mein Beweggrund.“
„Aber es scheint Sie nicht zu wundern, dass ich das denken könnte.“
„In meinem Alter gibt es nicht mehr vieles, das mich überraschen könnte.“
„Bis ich Sie kennengelernt habe, dachte ich, dass ich besonders gut darin bin, Fragen und Kommentare so zu formulieren, dass sie meinem Zweck dienen. Inzwischen glaube ich, dass ich ein totaler Anfänger bin.“
„Eine Geschichte entwickelt sich so, wie sie sich entwickeln soll, und nicht anders.“ Sie stellte auch das zweite Buch zurück und ging zum Sofa. Während sie es sich bequem machte, baute Phillip das Tonbandgerät auf. Dann nahm er auf der kleinen Couch Platz und holte seinen Notizblock hervor.
„Ich war mir nicht sicher, ob Sie heute überhaupt wiederkommen würden“, sagte sie, als er bereit war.
„Ich habe doch gesagt, dass ich kommen werde.“
„Was ich Ihnen gestern erzählt habe, empfanden Sie sicherlich als sehr geschmacklos.“
„Weil ich ein Schwarzer bin? Genau wie Ihre Tochter?“ „Weil Sie ein Mensch sind. Und weil das, was ich getan habe, gegen alles verstößt, was wir glauben. Wir glauben, dass wir bis zum letzten Atemzug für unsere Kinder kämpfen und sie beschützen – koste es, was es wolle. Dann stellen wir fest, dass es nicht immer so ist.“
„Haben Sie Ihre Tochter jemals wiedergesehen?“
Sie lehnte sich in den Kissen zurück. „Ja, das habe ich. Es hat eine Weile gedauert, sie ausfindig zu machen. Étienne änderte ihren Namen – wie ich befürchtet hatte. Aber darüber hinaus änderte er auch seinen eigenen Namen. Von dem Moment an, als er kam und meine Tochter mitnahm, fing ich an, nach ihr zu suchen. Doch sie war fast sechs, als ich sie endlich wiederfand.“
„Verraten Sie mir, wie er sie genannt hat?“
Sie nickte. Sie fragte sich, was ihm der Name sagen und wie viel er dadurch durchschauen würde. Sie war sich sicher, dass er am Ende dieses Tages das meiste verstanden haben würde.
„Nicolette“, sagte sie. „Er nannte sie Nicolette. Und, wie Sie sicherlich richtig vermuten, hat er seinen eigenen Namen wieder angenommen. Er nannte sich Rafe, Rafe Cantrelle.“
22. KAPITEL
A urore lebte in der Frenchmen Street in Faubourg Marigny, dem Viertel, das neben dem French Quarter lag. Das eineinhalbgeschossige kreolische Landhaus gehörte einem ehemaligen Partner von Lucien. Die Miete war niedrig; das Haus war, obwohl es einige Reparaturen benötigte, mehr wert. Aber immer, wenn Aurore mehr bezahlen wollte, wurde das Geld mit einer Nachricht zurückgeschickt, in der stand, dass sie sich wieder einmal verrechnet hätte.
Sie hatte sich selbst nur eine Woche gewährt, um sich von dem Verlust ihres Kindes zu erholen, ihre Brüste abzubinden und die Tränen zu trocknen. Dann hatte sie dem Kloster den Rücken gekehrt und war nach New Orleans zurückgekehrt, um Anspruch auf das zu erheben, was von ihrem Erbe noch übrig war.
Nur wenige helfende Hände waren ihr gereicht
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