Bis zur letzten Luge
will ich denn hinaus?“, fragte er. „Nicht auf ein Frühstück mit Speck und Eiern – so viel ist sicher.“
„Du erwartest nichts von mir, oder?“
Sie warf ihm unter ihren Wimpern hervor einen Blick zu – nicht schüchtern, sondern als wollte sie ihre Gedanken schützen. „Nein, ich erwarte nichts von dir. Wenn du mir sagen willst, dass du wieder gehen musst, habe ich schon damit gerechnet. Dein Koffer ist gepackt, wie immer. Hast du heute Morgen einen Anruf bekommen?“
Was den Koffer betraf, hatte sie recht. Wenn Phillip bei ihr wohnte, packte er nie aus. Er trug seine Kleider, wusch sie und legte sie säuberlich zusammengefaltet wieder zurück. Er kaufte seine Kleider auch im Hinblick darauf, wie sie sich für diese Handhabung eigneten.
„Du hast in deinem Kleiderschrank nie Platz für mich gemacht“, sagte er.
„Geht es hier um den Platz im Kleiderschrank, Phillip? Wenn du Platz willst, bekommst du Platz.“
Er wusste nicht, worum es in dieser Unterhaltung ging. Er fühlte sich einfach unzufrieden, wie ein Kind, das immer bekommen hatte, was es wollte, und jetzt nicht wusste, was es sich als Nächstes wünschen sollte. „Ich werde nicht gehen. Es sei denn, du möchtest es.“
„Habe ich das gesagt?“
„Du magst deine Privatsphäre.“
„Es ist leicht und angenehm, mit dir einfach ich selbst zu sein.“
„Und vertraut? Ist es auch leicht und angenehm, mit mir vertraut zu sein?“
Sie dachte darüber nach. Ausnahmsweise einmal konnte er ihr beinahe ansehen, was sie dachte. „Nein“, sagte sie schließlich. „Weil es dir Angst macht.“
„Und wie sieht es bei dir aus? Macht dir Vertrautheit auch Angst?“
„Ich weiß es nicht.“
Er wusste, dass das kein Versuch war, einer Antwort auszuweichen. Sie wusste es nicht, weil es in ihrem Leben nur selten Innigkeit und Intimität gegeben hatte – wenn überhaupt. Ihn traf plötzlich eine solche Welle der Zärtlichkeit, die er für sie empfand, dass er einen Moment lang nichts sagen konnte. Er legte seine Hand an ihre Wange und vergrub seine Fingerspitzen in ihrem Haar. „Ich habe nie Zeit damit verbracht, darüber nachzugrübeln, wer ich war oder was ichwollte. Jetzt denke ich fast nur noch darüber nach.“
„Es liegt an dieser Frau.“
„Aurore Gerritsen?“
„Du kannst nicht Tag für Tag bei ihr sitzen und dir ihre Geschichte anhören, ohne dein eigenes Leben zu reflektieren. Wenn man so alt ist, kann man sich nur wünschen, man hätte dieses oder jenes anders gemacht. Aber du bist noch nicht so alt. Du bist jung genug, um zu wissen, dass du die Dinge noch immer ändern kannst.“
„Und was wäre, wenn mir das gefällt, was ich sehe, wenn ich an mein Leben denke?“
„Dann machst du so weiter wie immer.“
„Was ist mit dir? Was siehst du, wenn du darüber nachdenkst, wo du stehst? Wohin willst du?“
„Vielleicht bin ich Mrs Gerritsen ähnlich. Vielleicht tue ich, was ich zu tun habe, und denke, dass das gut genug ist. Ich weiß es nicht.“
Er wollte sie fragen, in welche Richtung es mit ihnen ging, doch was, wenn sie diese Frage auch an ihn richtete? Was sollte er dann sagen?
Sie rückte ein bisschen näher und legte ihm den Arm um die Schultern. Er konnte ihre schlanken Finger an seinem Nacken fühlen. Ihm war nicht bewusst gewesen, wie verkrampft er gewesen war, bis er sich nun entspannte.
Aurore hatte kaum geschlafen. Als sie eine junge Frau gewesen war, hatte eine schlaflose Nacht ihr nicht so viel ausgemacht. Sie hatte viele schlaflose Nächte verbracht, in denen sie neben ihrem Ehemann gelegen hatte. Trotzdem war sie am nächsten Morgen aufgestanden und hatte getan, was getan werden musste.
An diesem Morgen schaffte sie es kaum, sich anzukleiden, aber sie kämpfte sich durch. Bald würde sie Hilfe brauchen. Ihre Finger würden steif werden oder zu stark zittern; ihreBeine würden ihr den Dienst versagen. Doch bis es so weit war, hatte sie nicht vor, klein beizugeben.
Sie erwartete Phillip bereits in der Bibliothek, als er erschien. An diesem Morgen brannte kein Feuer im Kamin, weil das Wetter, wie so oft im Februar, unvermittelt warm geworden war. Sonnenstrahlen fielen durch die Glastüren und liebkosten die in Leder gebundenen Bücher, die ihr ältester Sohn Hugh so geliebt hatte.
Sie blätterte gerade in einem Buch, als Phillip hereinkam. Sie hielt das Buch hoch. „Haben Sie gehört, dass man Dinge nicht nach ihrem äußeren Anschein beurteilen sollte?“
„Das habe ich gehört.“
Sie schlug das
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