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Bis zur letzten Luge

Bis zur letzten Luge

Titel: Bis zur letzten Luge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richards Emilie
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waren ihre Ansprüche die gleichen gewesen, die auch ihre Vorfahren gehabt hatten. Jetzt wurde sie mit der Armut fertig und mit der Ausgrenzung von allem, was ihrer Familie einmal lieb und teuer gewesen war. Niemand hatte sie auf dieses neue Leben vorbereitet.
    Und niemand hatte sie darauf vorbereitet, im Familienunternehmen zu arbeiten. Jeden Morgen um acht ging sie mit Tim in das neue Büro in der Tchoupitoulas Street, um zu arbeiten. Die Gulf Coast Dampfschifffahrtsgesellschaft gab es nicht mehr. Die Gesellschaft mit beschränkter Haftung, die ihr Großvater aufgebaut und um die sich Lucien meisterhaft gekümmert hatte, war aufgelöst worden. Gulf Coast Shipping hatte sich aus der Asche der alten Firma erhoben. Tim hatte ihr geraten, alles, was vom Feuer verschont geblieben war, zu verkaufen und das Geld anzulegen, damit sie davon leben konnte. Sie hatte das abgelehnt.
    Im neuen Jahrhundert hatten es die Flussschifffahrtsgesellschaften nicht leicht. Der Ausbau des Eisenbahnnetzes war der schlimmste Schlag gewesen. Aber auch der Zustand des Flusses selbst war ein Problem. Im Laufe der Jahre waren Kanäle nicht ausgebaut oder instand gehalten worden. Jetzt wirkte der Mississippi, einst eine farbenprächtige Parade von Dampfschiffen, Schleppern und Frachtkähnen, wie die verlassenen Straßen von New Orleans am Aschermittwoch.
    Als Aurore die Leitung von Gulf Coast übernommen hatte, hatte es keinen Platz für Fehler gegeben. Eine entscheidungsfreudige Führung war notwendig gewesen, die Wiederherstellung des Vertrauens in den Namen Le Danois, eine Demonstration, dass sie – obwohl sie eine Frau war – entweder Antoine Friloux’ gesundes Urteilsvermögen oder den Scharfsinn des jungen Lucien Le Danois besaß.
    Sie war beidem nicht gerecht geworden. Verwirrt und verunsichert hatte sie Tims Ratschläge in allen Bereichen angenommen; lediglich den Rat, die Firma zu verkaufen, hatte sie nicht befolgt. Tim, dessen Tage im Boxring ihn gelehrt hatten, wie wichtig es war, vorsichtig zu sein, wollte nichts riskieren. Dadurch verpasste er wichtige Möglichkeiten und klammerte sich oft an sichere Lösungen, die dann jedoch keinen Gewinn brachten. Im Laufe der Jahre wurde Tim immer älter,und seine Entscheidungen wurden immer vorsichtiger.
    Aurore lebte in einem Haus, das über kurz oder lang einzustürzen drohte, und versuchte Tag für Tag, ein Unternehmen zu retten, das ebenfalls kurz vorm Zusammenbruch stand. Wenn sie ausnahmsweise einmal an einem gesellschaftlichen Treffen teilnahm, war sie eine Ausgestoßene. Als unverheiratete Frau von fünfundzwanzig Jahren blickten sie nur noch die Ehemänner ihrer ehemaligen Freundinnen interessiert an.
    Die Schwangerschaft hatte ihre Figur reifen lassen und ihre Spuren auch auf anderen Gebieten hinterlassen. Ihr Haar hatte mehr Glanz, ihre Haut eine gesündere Farbe, als hätte ihr Körper die Nährstoffe ausgekostet, die er gesammelt hatte, um ihr Kind zu versorgen. Sie war anziehend für Männer – diejenigen, die nach einer Geliebten suchten, hatten daran keinen Zweifel gelassen. Doch die Männer, die nach einer Ehefrau suchten, blickten nicht mehr in ihre Richtung.
    Einen Monat nach dem viel zu kurzen Wiedersehen mit ihrer Tochter stand Aurore in ihrem Zimmer und betrachtete die Kleider, die in ihrem Schrank hingen. Sylvain und seine Frau Vera hatten sie zu einem abendlichen Picknick im Garten ihres Landhauses in Milneburg eingeladen. In der winzigen Gemeinde am See verbrachten viele Menschen gern ihren Sonntagnachmittag. Es gab Picknickpavillons, Tanzveranstaltungen und Restaurants. Das Haus der Winslows, krabbenrosa und voll kunstvoll verschnörkelter Zierleisten aus Holz, stand auf hohen Pfählen im Wasser und bot eine außergewöhnliche Aussicht.
    Sie wollte ablehnen. Der vergangene Monat war schwierig gewesen. Sie hatte an kaum etwas anderes denken können als daran, ihre Tochter in ihrem Arm zu spüren, und kaum etwas anderes gesehen als die kleine Hand, die ihr zum Abschied zugewinkt hatte.
    Étienne Terrebonne nannte sich nun Rafe Cantrelle, obwohlihr der Grund ein Rätsel war. Vielleicht hatte er einen neuen Namen gebraucht, der zu seinem neuen Leben als Besitzer eines Bordells passte. Aber nachdem nun so viel Zeit vergangen war, war er auch für Aurore zu Rafe geworden. Étienne Terrebonne, den Mann, den sie einmal geliebt hatte, hatte es niemals wirklich gegeben.
    Er hatte gedroht, mit ihrer Tochter nach New Orleans zurückzukehren. Doch nicht einmal zu dem Zeitpunkt

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