Bis zur letzten Luge
oben und hat einen Mann unterhalten.“
„Darum werde ich mich kümmern.“
„Ich habe nur gesungen!“ Sie schob die Unterlippe vor, aber sie weinte nicht. Die Vorstellung, dass Violet Ärger wegen einer Sache bekam, mit der sie überhaupt nichts zu tun hatte, machte sie plötzlich mutig. „Ich singe gut!“
Er schüttelte sie. Darauf war sie nicht vorbereitet. Sie wurde schlaff wie die geliebte Stoffpuppe, die Clarence ihr geschenkt hatte. An das Geld, das sie in ihrem Kleidchen versteckt hatte, dachte sie gar nicht mehr. Mit einem Mal fiel alles auf den Boden zu ihren Füßen. So unvermittelt, wie das Schütteln begonnen hatte, hörte es auch wieder auf. Sie bückte sich, um die Scheine einzusammeln, und dabei fielen ihr die Münzen aus der Hand. Ihr Vater nahm alles an sich.
„Hast du noch mehr?“, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf.
„Warum frage ich dich eigentlich? Dreh dich um! Ich werde selbst nachsehen, ob du noch was eingesteckt hast.“
Sie hatte kein Geld mehr, und sie versuchte, ihm das zu sagen, doch er beachtete sie gar nicht. Er drehte sie herum. Sie konnte die kühle Luft auf ihrem Rücken spüren, als er ihr dasKleid nach vorn über die Arme schob.
Es war kein Geld mehr zu finden, aber das kleine goldene Medaillon baumelte vor ihrem Bauch und glänzte. Sie spürte, wie ihr Vater an der Kette zog, kurz bevor er sie ihr abnahm. Als er sie schließlich losließ, schlüpfte sie wieder in ihr Kleid.
Sie sah ihn nicht an.
„Wer hat dir das gegeben?“
Sie suchte nach einer Antwort, doch ihr fiel nichts ein.
„Jemand im Haus?“
Ihr war klar, dass er, wenn sie Ja sagte, die Person suchen und sie danach fragen würde. Sie schüttelte den Kopf.
„Hast du es gestohlen, Nicolette?“ Seine Stimme klang leiser.
Sie hatte Angst. Er war ganz ruhig – fast wie der Stallkater Barney, kurz bevor er sich auf eine Maus stürzte. „Ich habe noch nie etwas gestohlen.“
„Hat einer der Männer dir das gegeben?“
Sie wollte Ja sagen. Dann wurde ihr bewusst, dass ihr Vater so erfahren würde, dass sie vorher schon einmal im Salon gewesen war. Also schüttelte sie wieder den Kopf. In seiner Miene stand etwas, das ihr mehr Angst machte als seine ruhige Stimme oder seine starre Körperhaltung. Sie wusste nicht, wie man es nennen sollte, als er nun die Augen ganz leicht zusammenkniff und blasser wurde. Sie wusste nur, dass sie ihm die Wahrheit sagen musste, weil er an etwas viel Schlimmeres dachte.
„Eine Dame hat es mir geschenkt“, sagte sie leise. „Welche Dame? Wo?“
„Eine Dame in einer Kutsche.“
„Wann?“
Sie wusste nicht genau, wann welcher Tag war oder wie lange eine Woche dauerte. Manchmal war es heißer, manchmal kälter. An dem Tag war es heiß gewesen, und das war alles, wassie noch wusste. Sie wollte ihm das sagen, aber dann begann sie zu strahlen. Ihr war eine bessere Antwort eingefallen. „An meinem Geburtstag. Sie hat gesagt, es sei ein Geheimnis.“
Schon vorher hatte er ganz ruhig vor ihr gestanden. Jetzt schien er regelrecht versteinert zu sein. „Geh auf dein Zimmer, und bleib da“, sagte er schließlich.
„Die Dame hat gesagt, dass ich die Halskette behalten darf.“ Sie streckte die Hand aus.
„Geh in dein Zimmer!“
Sie hielt ihm noch immer die Hand entgegen. „Bitte?“ „Wenn du noch einmal in den Salon gehst, schicke ich dich fort, Nicolette. Hast du mich verstanden?“
Sie ließ die Hand sinken.
„Wenn du mit einem der Männer sprichst, die hierherkommen“, er machte eine Pause, und seine Augen wirkten mit einem Mal kalt, „oder falls du jemals wieder mit der Dame sprechen solltest, die dir das hier geschenkt hat, schicke ich dich fort. Ist das klar?“
„Fort von Clarence und Violet?“
Er starrte sie an. Ihr schoss durch den Kopf, dass er sie wahrscheinlich hasste. Niemand hatte sie je so angesehen, nicht einmal die Herzogin. Ihr Blick verschwamm, und sie sah weg. Sie dachte, sie würde den Herrn in der Küchentür stehen sehen, der den Abend in Violets Zimmer verbracht hatte.
Als sie blinzelte, war der Herr verschwunden, und ihr Vater ging davon.
21. KAPITEL
B elinda lag ausgestreckt neben Phillip. Ihr dünnes Baumwollnachthemd schmiegte sich im Schlaf eng an ihre Oberschenkel. Wenn sie schliefen, berührte sie ihn nie, so als wäre das ein unannehmbares Zeichen der Besitzergreifung. Sie gab gern von sich, doch sie forderte für diese Großzügigkeit keine Gegenleistung.
Phillip hatte nie darüber nachgedacht, ihr im Gegenzug
Weitere Kostenlose Bücher