Bis zur letzten Luge
er Claire und Aurore zurück nach New Orleans begleiten konnte? Hatte er Claire nicht die Erlaubnis erteilt, noch diese zusätzlichen Wochen zu bleiben? Wochen, die sie angeblich benötigte, um sich auf die letzten Monate ihrer Schwangerschaft einzustellen?
Als Ehemann konnte man ihm nichts vorwerfen. Vielleicht war das Haus in New Orleans nicht so groß wie das Haus, in dem sie früher mit ihren Eltern gewohnt hatte. Aber viele beneideten ihn um das Grundstück, das er an der Esplanade Avenue besaß. Claire fehlte es an nichts.
Und er war geduldig gewesen. Bei allen Heiligen – er war geduldig gewesen, als sie Baby um Baby verloren hatte. Ein Mann konnte wegen weitaus geringerer Gründe wütend auf seine Frau sein. Er hatte zugesehen und schweigend abgewartet, als sie immer wieder daran gescheitert war, einen Stammhalter auf die Welt zu bringen, der seinen Namen trug. Auch jetzt war sie wieder schwanger. Auch jetzt wartete er auf den Tag, an dem sie sich hinlegen und ihn wieder enttäuschen würde.
Trotz Luciens Geduld hatte Claire ihm nichts geschenkt außer einer zarten, zerbrechlichen Tochter, deren Haut so blass und durchscheinend war, dass er fast ihr Herz schlagensehen konnte. Niemand glaubte ernsthaft, dass ihre fünfjährige Tochter Aurore, ihr einziges lebend geborenes Kind, bis ins Erwachsenenalter überleben würde.
Konnte man ihm also einen Vorwurf machen, weil er sich einen Nachmittag für sich selbst nahm? Er hatte Marcelite versprochen, sie zu besuchen, bevor er zurück nach New Orleans ging. Monate würden vergehen, ehe er sie wiedersehen würde, Monate, in denen er nur davon träumen würde, ihren Körper unter seinem zu spüren.
Plötzlich blähte der Wind sein Segel. Es war beinahe wie das strenge Seufzen eines Gottes, der ungehalten über die Ausreden war. Das kleine Boot wurde näher ans Ufer getrieben, getragen von den Wellen, die sich am Sandstrand brachen. Es herrschte Ebbe. Lucien krempelte seine Hosenbeine hoch und zog seine Schuhe aus. Dann schwang er sich über Bord, um das Boot an Land zu ziehen.
In der Ferne konnte er Männer mit breitkrempigen Hüten sehen, die trotz der nachmittäglichen Regenschauer auf dem Meer waren und runde Fischernetze auswarfen. Eine Kaltfront war aufgezogen, und die feuchte Luft fühlte sich herbstlich an. Zwei Frauen, deren schlichte Kleider im nassen Sand schleiften, stapelten vom Sturm angespültes Treibholz, das fürs Kochen und Heizen gelagert werden sollte. Marcelites Stapel befand sich noch ein Stück weiter den Strand hinauf. Sie hatte ihn mit der Hilfe von Raphael angehäuft.
Der siebenjährige Raphael, Marcelites Sohn aus einer früheren Beziehung, war ein guter Junge. Er war eine Hilfe für seine Mutter und ein Beschützer und Freund für seine Schwester. Er war genauso bezaubert von Angelle wie Lucien. Wegen dieser bedingungslosen Liebe zu seiner Schwester hatte Raphael auch einen besonderen Platz in Luciens Herz.
Lucien warf einen prüfenden Blick über den Strand. Er rechnete fast damit, dass der Junge sich hinter einem der Holzstapel versteckte – ein Spiel, das sie oft spielten. DochRaphael war nirgends zu entdecken.
Lucien murmelte höfliche Grüße, als er an den Frauen vorbeiging, ehe er sich auf den Weg ins Dorf machte. Der Unterschied zwischen Chénière Caminada und Grand Isle war gewaltig. Im Fischerdorf auf der Chénière standen über sechshundert Häuser. Es herrschte das geschäftige alltägliche Treiben der Bewohner. Die Fischer und Jäger auf der Chénière hatten große, eng verbundene Familien und wenig Kontakt zur Außenwelt. Die Grand Isle dagegen war kleiner. Es gab dort keine Kirche und auch keinen ortsansässigen Friedensrichter. Aber in den Sommermonaten wurde die Insel von Wohlhabenden überschwemmt, die den unbarmherzig heißen Temperaturen in der Stadt und dem Fieber, das oft mit der Hitze kam, entfliehen wollten.
Lucien kam an einem Orangenhain vorbei. Die noch grünlichen Früchte waren so schwer, dass sich die Äste unter ihrem Gewicht zu anmutigen Bögen formten. Vor ihm säumten einige Holzrahmenhäuser, die auf hohen Stelzen aus Ziegelsteinen standen, den grasbewachsenen Weg. Als er an den Häusern vorbeilief, erblickte er eine Gruppe von Frauen, die sich auf der breiten Veranda eines Hauses unterhielten und Krabben pulten. Sie riefen ihm zu, dass er Unterschlupf suchen solle, ehe es wieder zu regnen beginnen würde. Ein kleiner Hund lief ihm vor die Füße und schnupperte an seinen Schuhen. Das Tier
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