Bis zur letzten Luge
passieren würde.
Er hatte sie aufs Übelste beschimpft, weil sie keine Jungfrau mehr war, und sie hatte sich davor gehütet, irgendetwas abzustreiten. Sie hatte sich wie eine Jungfrau gefühlt, als wäre diese Demütigung die eigentliche Entjungferung gewesen und das Glück, das sie in Rafes Armen verspürt hatte, nur ein kindischer Traum.
In der Dunkelheit hatte sie ihn angestarrt und sich gezwungen, nicht zu weinen oder zu schreien. Sie hatte keinen Versuch gemacht, sich ihm zu verweigern, hatte ihn nicht einmal gebeten, vorsichtig zu sein. Sie hatte seinen Missbrauch schweigend und mit dem Rest ihrer angeschlagenen Würdeertragen. Erst kurz vor dem Morgengrauen war seine Lust endlich gestillt gewesen, und er war erschöpft eingeschlafen.
Nun lag sie ruhig neben ihm und dachte darüber nach, wie es weitergehen sollte.
Henry wusste, dass sie einen Geliebten gehabt hatte, und wenn er wieder aufwachte, würde sie Fragen beantworten müssen – da war sie sich sicher. Die Wahrheit herauszufinden war zu verlockend. Henry würde Nachforschungen anstellen und in Erfahrung bringen, wer und was Rafe war. Vielleicht war er dann sogar wütend genug, um sich an ihm zu rächen.
Bei der Vorstellung schlug Aurores Herz schneller. Als Sonnenstrahlen den Himmel erhellten, wurde ihr bewusst, dass sie Rafe mehr hasste als je zuvor. Sie spürte die sehnsüchtige Wärme, die sie vor dem Altar gespürt hatte, nicht mehr. Rafe hatte ihr die Liebe gezeigt, hatte sie dazu gebracht, an die magischen Möglichkeiten zu glauben – eine Nacht in Henrys Armen kam ihr so noch schändlicher vor. Das Verlangen nach Rache war wie ein Knoten in ihrem Innern, der alles zusammenschnürte, bis sie kaum noch atmen konnte. Wenn Henry Rafe bestrafte, war diese Nacht wenigstens nicht ganz umsonst gewesen.
Doch wenn Henry Rafe bestrafte, würde vielleicht auch Nicolette darunter leiden. Das konnte Aurore nicht zulassen. Das Leben ihres Kindes war schon so unsicher und gefährdet genug. Sie konnte sich vorstellen, welchen Risiken Nicolette in diesem verabscheuungswürdigen Haus in der Basin Street ausgesetzt war. Was würde passieren, wenn Rafe nicht da war, um sie zu beschützen? An dem Tag, als er ihr Nicolette weggenommen hatte, hatte er sie gewarnt, dass sie möglicherweise ihrer Tochter schadete, falls sie versuchen sollte, Rafe zu schaden. Jetzt wurde ihr erst richtig bewusst, dass ihr die Hände gebunden waren.
Sie konnte Henry nicht die Wahrheit sagen, sosehr sie sich auch wünschte, Rache zu nehmen. Also musste sie ihmeine Lüge auftischen, die er glauben würde und weder beweisen noch entkräften konnte. Sie hatte schon früher darüber nachgedacht; bisher hatte sie allerdings gehofft, dass es Henry nicht auffallen würde, dass sie keine Jungfrau war oder dass es ihm egal wäre. Sie war älter als die durchschnittliche Braut. Sicherlich war ihm der Gedanke gekommen, dass sie mit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr unberührt sein könnte.
Sie war sich noch immer nicht sicher, ob es ihm etwas ausmachte, aber er hatte es bemerkt. Sein Vorwurf konnte auch eine Art sein, die Kontrolle über sie zu erlangen, sie zu beherrschen, doch Tatsache war, dass sie darauf nichts zu erwidern wusste.
Sie beschloss, ihm zu erzählen, dass ihr Geliebter ein Geschäftsfreund ihres Vaters gewesen wäre, ein älterer Mann, möglicherweise ein Europäer. Als sie nach Luciens Tod zu ihm gefahren wäre, hätte sie festgestellt, dass er bereits verheiratet war. Nach allem, was passiert wäre, hätte sie ihr gebrochenes Herz heilen wollen, indem sie Trost im Reisen gesucht hätte. Und erst, als der Kummer abgeklungen wäre, so wollte sie Henry einreden, hätte sie nach New Orleans zurückkehren können. Das hätte auch ihre lange Abwesenheit erklärt.
Dann würde sie um Vergebung bitten, Henry versichern, dass sie jung und dumm gewesen wäre und dass der Mann ihre Unschuld ausgenutzt hätte. Sie würde sich weigern, ihm den Namen zu nennen, und behaupten, er wäre reich und mächtig und könnte Henry eine Menge Schwierigkeiten bereiten, falls der versuchen sollte, ihn bloßzustellen. Sie ahnte, dass es Henry gefallen würde, dass sie die Geliebte eines mächtigen Europäers gewesen wäre. Und sie nahm an, dass ihre Sünden Henrys Meinung nach zum Teil dadurch abgegolten wären, dass sie einen guten Geschmack bewiesen hätte.
Was sie mit dem Rest ihres Lebens anfangen sollte, war weit weniger klar. Sie war mit einem skrupellosen Mann verheiratet, der nur eines
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