Bis zur letzten Luge
Leben als Mrs Henry Gerritsen zu beginnen.
Wenn die Winslows in Milneburg waren, hatten sie immer Personal dabei. Aurore und Henry aber hatten beschlossen, ihre Zeit dort allein zu verbringen. Eine Frau aus dem Ort würde morgens vorbeikommen, um zu putzen und ihnen etwas fürs Abendessen vorzubereiten, doch ansonsten würde niemand sie stören. Der Februar war nicht die gefragtesteZeit, um den friedlichen Blick auf den See zu genießen; die Stadt war fest in der Hand des Karnevals.
Doris, die Frau aus dem Ort, wartete bereits, um die Koffer auszupacken, als Henry und Aurore ankamen. Aurore ging auf die Veranda hinaus, die über das Wasser ragte, während Doris sich um alles kümmerte. Die Veranda war fast so breit wie das Deck eines Dampfschiffes und die Aussicht so spektakulär, als würde sie auf eine farbenprächtige Flussbiegung blicken. Die Sonne ging unter, und leuchtendes Rot ging in unzählige kleinere Schattierungen über.
Verzaubert lehnte sie sich an das Geländer. Gänse flogen in perfekter Formation am Himmel entlang. Noch nie hatte sie den See so ruhig und friedlich daliegen sehen. Keine Segelboote wühlten die glatte Oberfläche des Wassers auf; keine Fische sprangen in die Höhe.
„Nach dem Wind, den wir am Nachmittag hatten, bin ich überrascht, dass es jetzt so ruhig ist.“
Sie hatte nicht bemerkt, dass Henry gekommen war und sich neben sie gestellt hatte. Es beunruhigte sie, dass er sich so leise anschleichen konnte. „Es ist ein wunderschöner Sonnenuntergang, nicht wahr?“
„Es ist kalt und viel zu still“, knurrte er.
Sie wandte sich ihm zu und lächelte. „Es ist wunderschön, Henry! Genieß es.“
„Ich frage mich, ob du den Rest deiner Tage damit verbringen willst, mir deine Meinung aufzudrängen.“
Zum ersten Mal spürte auch sie die Kälte. „Ich hoffe, ich werde die Zeit etwas nützlicher verbringen.“
Er betrachtete sie, nicht den aufsehenerregenden Sonnenuntergang. „Deine Augen haben die Farbe des Sees zu dieser Jahreszeit – genauso kühl und ruhig. Ich könnte fast glauben, was ich sehe. Keine Leidenschaften, keine Geheimnisse. Nichts, was die Oberfläche bewegt.“
Sie hatte ihm nicht von den Ereignissen erzählt, die Narbenauf ihrer Seele hinterlassen hatten, und sie tat es auch jetzt nicht. „Ich bin nicht anders als andere. Ich habe Leidenschaften und Geheimnisse. Aber es gibt nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest.“
„Nein?“
Sie lehnte sich mit dem Rücken an das Geländer und sah ihn an. „Nein. Das musst du doch wissen. Du bist kein Mann, der eine Frau heiraten würde, die er nicht wirklich kennt.“
„Ich kenne dich.“
„Tja, hoffentlich weißt du nicht alles über mich. Denn man sollte für den Partner immer ein bisschen geheimnisvoll bleiben, findest du nicht?“
„Nein.“ Er strich über eine Haarsträhne, die sich aus dem modischen Knoten gelöst hatte, den Ti’Boo auf Aurores Kopf gesteckt hatte. „Sag mir genau, warum du mich geheiratet hast, Rory.“
Sie spürte, dass er sich nur mit der Wahrheit zufriedengeben würde. „Weil du mir alles geben kannst, was ich will. Und ich denke, ich kann dasselbe für dich tun.“
„Was will ich denn?“
„Über das hinaus, was du mir bei unserem ersten Kennenlernen schon erzählt hast?“ Sie dachte nach. „Du willst keine Ruhe, du bist kein ruhiger Mann. Ich glaube nicht, dass das Glück von Herd und Heim dich reizt.“ Sie überlegte weiter. „Ich denke, du willst eine Herausforderung. Und die kann ich dir versprechen.“
„Eine Herausforderung?“
„Du würdest mit einer Frau, die versuchen würde, dein Leben gemütlich und einfach zu machen, nicht glücklich werden. Du willst keine gleichberechtigte Partnerin, du willst allerdings auch keine Dienerin.“
Das Bild, das vor ihrem geistigen Auge auftauchte, während sie sprach, war das von einer Turnhalle, die Tim ihr einmal beschrieben hatte. Tims Tage als Boxer waren längst vergangen,doch er stellte sich noch immer von Zeit zu Zeit in den Ring – nur um zu beweisen, dass er es noch konnte. Es gab Männer in der Turnhalle, die ihren Lebensunterhalt damit verdienten, gegen andere zu kämpfen. Sie ließen sich nicht einfach wahllos schlagen. Diese Männer waren als Boxer gut genug, um einiges, was sie einstecken mussten, auch wieder auszuteilen. Aber sie hielten sich zurück. Und sie achteten darauf, nur so hart zuzuschlagen, dass die Männer, die sie bezahlten, ihre eigenen Fähigkeiten verbessern konnten.
„Du
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