Bis zur letzten Luge
zwar erst dreißig Jahre alt; dennoch lastete der Tod ihrer Mutter auf ihr und erinnerte sie daran, wie gering der Altersunterschied zwischen ihnen war. Es war möglich, dass auch sie jung starb. Und was sollte dann aus ihrem Sohn werden?
Was würde mit ihrer Tochter passieren?
Gulf Coast blühte auf. Der Merchant Marine Act von 1916 sah die Erweiterung des Seehandels unter amerikanischer Flagge vor. Mit dem Gewinn aus der erfolgreichen Expansion ihres Unternehmens hatten Henry und Aurore ihren ersten Überseefrachter gekauft. Aurores Traum vom Wiederaufbau und der Rückkehr der Firma zu altem Ruhm schien sich zu bewahrheiten.
Jeder einzelne Tag mit Henry war ein Machtkampf, dochder geschäftliche Aufschwung hielt ihn ohnehin oft von zu Hause fern. Aurore ging immer dann ins Büro, wenn er weg war. Für die Zeit, die sie normalerweise zu zweit verbringen mussten, nahm sie gesellschaftliche Termine an. Im Laufe der gemeinsamen Ehejahre hatte er sich angewöhnt, ihr inneres Gleichgewicht zu stören, wann immer es ging. Wochenlang verhielt er sich ihr gegenüber zwar höflich, aber kühl und distanziert. Doch sobald sie sich entspannte und sich schon mit diesem Verhalten abfinden wollte, stürzte er sich auf sie und griff an. Ihr Schlafzimmer diente als Austragungsort, sein Körper war seine stärkste Waffe. Dann schlief er mit ihr, während er ihr Haar fest um seine Hand gewickelt hatte.
Aurore verfiel in immer tiefere Melancholie, und Claires Tod hing ihr nach. In dieser Situation blieb ihr nur die Möglichkeit, ihre Sorgen mit einem Geistlichen zu teilen oder sich einen Rechtsbeistand zu suchen. Sie entschied sich für einen Anwalt namens Spencer St. Amant.
Der Himmel war bewölkt, als sie eines Morgens die Canal Street nahe des Kaufhauses Maison Blanche überquerte und die zwei Treppen zu Spencer St. Amants Kanzlei hinaufstieg. Sie war ein bisschen zu früh. Spencer zählte nicht zu den Beratern von Gulf Coast und war auch nicht mit Henry befreundet. Er gehörte zu einer in New Orleans alteingesessenen Familie. Doch obwohl die St. Amants sich mit den richtigen gesellschaftlichen Linien verbunden hatten, waren sie nie im Mittelpunkt gewesen. Trotz der Herkunft und Wurzeln hegten die Leute Misstrauen gegenüber den St. Amants, weil sie manchmal unbeliebte Anliegen vertraten.
Diese allgemein bekannte Toleranz hatte Aurore zu Spencer geführt. Sie konnte sich sicher sein, dass das, was sie ihm anvertraute, nicht an die Öffentlichkeit gelangen oder anderen zu Ohren kommen würde. Dennoch lief sie nervös im Empfangsbereich auf und ab, während sie wartete. Immer wieder fragte sie sich, ob es richtig gewesen war herzukommen.
Auch als sie Spencer St. Amant endlich gegenübersaß, beschäftigte sie diese Frage. Als er sie begrüßte, betastete sie unsicher ihre Perlenkette und versuchte dabei angestrengt, von seinem Verhalten auf seinen Charakter zu schließen. Sie vermutete, dass er einige Jahre jünger als sie war, und schätzte ihn als eher schüchtern ein. Spencer war schlank, hatte dunkles Haar und sehr helle Haut. Dieser Kontrast bewirkte, dass ein leichter Bartschatten zu erkennen war, obwohl er glatt rasiert war. Mit seinen leuchtend blauen Augen musterte er sie aufmerksam. Allerdings vermittelte ihr sein zurückhaltendes Lächeln, dass er keine vorschnellen Urteile fällte.
„Ich glaube, unsere Väter haben sich gekannt“, sagte er. „Ich habe gehört, dass beide um die Hand Ihrer Mutter angehalten haben.“
„Sie ist vor einigen Wochen verstorben.“
„Das tut mir sehr leid.“
„Es gibt keinen Grund, traurig zu sein.“ Es überraschte sie selbst, als sie nun Claires Geschichte erzählte, ohne das kleinste Detail auszulassen. „Sie sehen also, dass sie sich damals vielleicht besser für Ihren Vater entschieden hätte“, schloss sie.
Er lehnte sich zurück und trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch. „Ich beneide Sie nicht um Ihre Kindheit.“
„Das Traurigste daran ist, dass ich offenbar nichts daraus gelernt habe.“
Schweigend wartete er ab, als würde der weitere Verlauf des Tages nur in ihren Händen liegen. Seine Geduld rührte sie und machte ihr Mut. „Ich habe viele schreckliche Fehler gemacht“, setzte sie an.
Nach einer ganzen Weile beugte er sich vor. „Was kann ich für Sie tun?“
Sie fühlte sich, als wäre sie von all dem Hass, der sich in mehr als zehn Jahren in ihr aufgestaut hatte, befreit worden. Zwar war ihr klar, dass die Wut zurückkehren würde. Dochfür
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