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Bis zur letzten Luge

Bis zur letzten Luge

Titel: Bis zur letzten Luge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richards Emilie
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vergangene Stunde im Schaukelstuhl verbracht und sich unaufhörlich hin und her gewiegt hatte. Sie kam an dem kleinen Tisch vorbei, unter dem Aurore kauerte, doch sie sah nicht in ihre Richtung. An der Tür zu ihrem Schlafzimmer hob sie die Hand an die Stirn und murmelte etwas Unverständliches. Dann verschwand sie.
    Aurore wartete, noch immer besorgt. Als sie sich sicher war, dass eine Ewigkeit vergangen war, streckte sie ein Bein aus. Sie biss sich auf die Lippe, denn ein Krampf machte ihr das Ausstrecken fast unmöglich. Nachdem ihre Mutter nicht wieder auftauchte, rutschte sie unter dem Tisch hervor und stand auf.
    Jeden Tag beobachtete sie ihre Mutter. Sie kannte ihre Angewohnheiten genau. Jetzt würde sie ruhelos schlafen und ab und an stöhnen wie der Wind, in dem sich die Bäume vor ihrer Tür bogen. Aber erst, wenn Aurores Kindermädchen Ti’Boo von ihrem täglichen Besuch bei der Familie ihres Onkels zurückkehren würde, würde man wieder nach Aurore sehen. Wenn sie sich traute, war sie also frei, nach draußen zu rennen und mit dem Wind zu tanzen. Wenn sie wollte, konnte sie unter den Sturmwolken spielen, die sich bedrohlich zusammenballten. Und wenn der Blitz kam …
    Sie faltete die Hände. Wenn der Blitz kam, konnte sie zusehen, wie er am dunklen Himmel zuckte und die Wolken aufbrach. Regentropfen würden fallen, purer silberner Regen, so funkelnd wie der Spiegel in ihrem Schlafzimmer in New Orleans.
    Der Wind lockte sie. Blätter wirbelten fröhlich herum, und bunte Oleanderblüten flogen so leicht wie Engelsflügel durch die Luft. Jenseits der Schienen, die vor ihr verliefen, konnte Aurore die leer stehenden Cottages sehen, die auf der anderen Seite der Lichtung standen. Hinter ihnen blökten ein paar verschlafeneKühe, die über die Insel streiften, eine schwermütige Melodie.
    Die Schienen waren so verlassen wie die Häuser. Die Touristensaison bei Krantz war vorbei. Das Maultier, das den Bahnwagen an Sommertagen zweimal täglich zum Strand zog, stand hinter dem Speisesaal auf der Weide und machte eine wohlverdiente Pause.
    Aurore wünschte sich, die Saison wäre nicht vorbei. Im Sommer gab es noch andere Kinder hier. Unter Ti’Boos wachsamen Blicken konnte sie dann herumtollen, und niemand ermahnte sie, sich auch einmal auszuruhen. Niemand erinnerte sich daran, dass sie eigentlich ein zartes Kind mit riesigen Augen war, das nach zu viel Aufregung leicht Fieber bekam und manchmal Atemnot. Im Sommer watete sie durch das seichte Wasser des Golfs und sammelte Muscheln und Treibholz. In diesem Jahr hatte sie gelernt, Krebse zu fischen und mit den Füßen voran in den Wellen zu treiben. Im nächsten Jahr würde sie schwimmen lernen – das hatte Ti’Boo ihr versprochen.
    Sie wollte schwimmen. Sie wollte ans Ende des Golfes schwimmen, auf das offene Meer hinaus und niemals, niemals anhalten. Sie würde mit den Delfinen springen, und die Haie würden sie nicht auffressen; sie war viel zu dünn und zu blass, um für die Haie interessant zu sein. Ti’Boo hatte ihr das zu Beginn des Sommers gesagt, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war und Angst gehabt hatte, nass zu werden.
    Ein Windhauch hob eine Locke in ihrem Nacken an und wehte sie an ihre Wange. Aurore kicherte und breitete die Arme aus, um ihren unsichtbaren Spielkameraden zu umarmen. Im nächsten Moment war sie unter den Eichen und wirbelte im Rhythmus des Windes herum. Sie sauste am Speisesaal vorbei. Weder aus ihrem Häuschen noch aus den anderen war ein Laut zu hören. Im Sommer hätten sie bereits an die fünfzig Leute gesehen und Fragen gestellt. Doch jetzt, am letzten Tag im September, hatte nicht einmal Mr Krantz, derso groß war, dass er überall zu sein schien, sie entdeckt.
    Sie wollte noch einmal die Wellen sehen. Ihre Familie würde am Montag nach New Orleans zurückreisen. Am vergangenen Abend war ihr Vater Lucien aus New Orleans gekommen, um sie nach Hause zu begleiten. Zwar würden sie am nächsten Tag nicht in die Kirche auf Chénière Caminada gehen – ihr Vater fand, dass das kein geeigneter Ort für seine Frau und sein Kind war. Aber ihre Mutter würde stattdessen im Cottage beten, und Aurore würde gezwungen sein, dazubleiben, sodass sie das Meer nicht würde sehen können.
    Aurore wusste, dass ihrem Vater nicht auffallen würde, dass sie weg war. Am Nachmittag hatte sie beobachtet, wie ihre Mutter und ihr Vater gestritten hatten. Papa wollte segeln gehen, aber maman bat ihn, nicht rauszufahren. Monsieur Placide

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