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Bis zur letzten Luge

Bis zur letzten Luge

Titel: Bis zur letzten Luge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richards Emilie
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Chighizola hatte sie wegen eines aufziehenden Sturmes gewarnt, und sie glaubte ihm. Hatte er sie mit seinen Kräutern und der speziellen Kost nicht stärker gemacht? Wieso also sollte sie glauben, dass er sich irrte?
    Aurores Vater machte sich darüber lustig. Monsieur Chighizola habe keine Ahnung, behauptete er, die Heilmittel des alten Mannes seien nichts als Voodoo. In Luciens Augen waren sie nicht wirksamer als die Beutelchen mit den Talismanen, die die schwarzen Frauen mit sich herumtrugen. Diese Frauen glaubten auch immer noch daran, dass Marie Laveau – obwohl sie längst tot war – sie vor einem eingebildeten Fluch bewahren konnte. Chighizolas Prophezeiung eines Sturmes sei nichts als Unsinn. Ob Claire nicht den kühlen Windhauch spüren könne, fragte Lucien sie. Jeder Seemann wisse doch, dass ein großer Sturm niemals einer Kaltfront folgte.
    Claire war immer blasser geworden. Als sie Lucien weiter anflehte, erhob er die Hand, als wollte er sie schlagen. Doch dann drehte er sich um und verschwand.
    Zwar hielt Aurore ihren Vater für den hübschesten Mann auf der Welt, aber in dem Moment war sein Gesicht zu einerfürchterlichen Maske verzerrt gewesen. Unter seinem dichten Schnurrbart hatten seine Lippen sich bewegt, und sie hatte sich vor seinen gemurmelten Worten gefürchtet.
    Aurore hatte Ti’Boo davon erzählt. Daraufhin hatte ihre Freundin ihr erklärt, dass Eltern sich eben manchmal stritten. Einmal hatte ihre Mutter ihren Vater sogar mit einem Besen durchs Haus gejagt.
    Aurore wünschte, sie wäre so alt wie Ti’Boo. Zwölf zu sein und die eigenen Eltern verlassen zu können, um als Kindermädchen zu arbeiten! Gut, Ti’Boo musste jeden Tag ihre Tante und ihren Onkel besuchen und sich deren Fragen stellen. Doch Ti’Boos Leben kam ihr trotzdem wie der Inbegriff von Freiheit vor.
    Eines Tages würde Aurore auch zwölf sein. Sie versuchte sich das vorzustellen, aber es gelang ihr nicht. Zwölf zu sein! Frei zu sein!
    Die Wellen schienen sie mit ihren eigenen Versprechen von Freiheit zu locken. Sie hatte eine Entscheidung getroffen und folgte den Schienen Richtung Wasser. In der Ferne sah sie die Dächer der Badehäuser, in denen sie und ihre Mutter sich umzogen, bevor sie ins Wasser gingen. Ein gutes Stück entfernt befanden sich die Badehäuser für die Männer. Ti’Boo sagte, dass die Männer nackt badeten und die Badehäuser deshalb so weit weg wären. Mehr als einmal hatte Aurore versucht, sich das auszumalen.
    Als sie die Dünen erreichte und den Schienen zwischen ihnen hindurch folgte, bemerkte sie, dass an diesem Tag keine Angler zu sehen waren. Weit draußen am Horizont ritten einige Boote mit bunten dreieckigen Segeln auf den wütenden Wellen, doch niemand angelte in der Brandung.
    Beim Anblick der majestätischen Wellen holte sie tief Luft. Sie war nicht so dumm, näher heranzugehen. Hungrig fraßen sich die Wellen in den Sand. Sie würden auch ein kleines Mädchen fressen. Als sie sich Zentimeter für Zentimeter vorwärtsbewegte, wurde der Stamm einer alten Zypresse, die der Wind aus einem geheimnisvollen Sumpfgebiet gerissen hatte, auf den Sand geschleudert, ehe das Wasser ihn sich zurückholte.
    Aurore faltete die Hände, wie sie es schon auf der Veranda getan hatte. Weit entfernt, hinter den Booten, hinter den Wellen, war ein silberner Blitz zu sehen. Licht zuckte am Himmel zwischen den dunklen Gewitterwolken nach unten zum Wasser – so ähnlich wie auf den Bildern, auf denen der Sohn Gottes in den Himmel auffuhr. Schnell bekreuzigte sie sich und faltete wieder die Hände.
    „Ro-Ro!“
    Beim Klang von Ti’Boos Stimme wirbelte sie herum. Einen Moment lang hoffte sie, sich verstecken zu können; aber dann wusste sie, dass diese Hoffnung vergebens war. Sie hätte sich nur in die Wellen stürzen können, und davor hatte sie Angst.
    Das pausbäckige Gesicht rosa vor Anstrengung, kam Ti’Boo durch die Dünen gerannt. „Ro-Ro!“ Sie blieb stehen und erhob strafend den Zeigefinger.
    Aurore bemühte sich, schuldbewusst dreinzublicken. „Ich wollte nur noch einmal den Strand sehen, Ti’Boo. Ich wollte nicht näher ans Wasser. Ehrlich.“
    „Du hast mich zu Tode erschreckt. Mein Herz hat aufgehört zu schlagen!“ Sie schlug die Hände an die Brust.
    „Ich dachte, du wärst noch nicht zurück. Ich dachte, niemand …“
    „Niemand außer mir weiß es.“
    Aurore schickte ein kurzes Dankgebet gen Himmel. „Sag es niemandem! Bitte, sag es niemandem!“
    Ti’Boo wedelte dramatisch mit

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