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Bis zur letzten Luge

Bis zur letzten Luge

Titel: Bis zur letzten Luge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richards Emilie
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der Schiefer und die Dachziegel glänzten. Hinter ihr lief Rafe auf und ab. Der Raum schien zu klein für ihn zu sein, die Decke zu niedrig. Er wirkte wie ein Riese in einem Puppenhaus, das überall mit Spitze und verblassten Blumen verziert war.
    Die Tür war angelehnt, aber weder Nicolette noch Rafe merkten, dass Aurore auf der anderen Seite stand oder dasssie sie hören konnte. Nicolette zupfte am Saum ihres Kleides. Aurore überlegte, ob Rafe es ihr extra für diesen Tag gekauft hatte. Das Kleid war blau und hatte rotweiße Aufsätze. Passend dazu trug Nicolette rote Schleifen im Haar und weiße Kniestrümpfe. Sie war das niedlichste kleine Mädchen, das Aurore je gesehen hatte.
    „Wo ist die Frau, die hier wohnt?“, erkundigte Nicolette sich.
    „Hab ich dir doch erzählt. Sie ist für eine Weile verreist.“ „Ich habe keine Lust mehr, zu warten.“
    „Es dauert bestimmt nicht mehr lange.“
    Nicolette schloss die Augen, als Rafe auf sie zuging und ihr das Haar aus dem Gesicht strich. Sie schmiegte sich wie selbstverständlich an ihn, und er nahm sie in den Arm. „Du siehst heute sehr hübsch aus“, sagte er.
    „Ob die Frau, die gleich kommt, das auch findet?“
    „Mit Sicherheit.“
    „Erzähl mir was von ihr.“
    „Das habe ich doch schon, Nicolette. Sie ist eine Freundin deiner Mutter gewesen. Und sie möchte dich noch einmal sehen, bevor wir die Stadt verlassen.“
    „Aber warum müssen wir uns ausgerechnet hier treffen? Warum kommt sie nicht einfach zu uns nach Hause?“
    „Sie ist weiß und wir nicht.“
    „Meine Haut ist weiß. Jedenfalls fast.“
    „Aber du bist schwarz, so wie ich.“
    „Deine Haut ist doch auch weiß.“
    „Möchtest du weiß sein?“
    Darüber schien sie kurz nachdenken zu müssen. „Dann dürfte ich in der Straßenbahn vorne sitzen.“
    „Ja, das dürftest du.“
    „Wenn ich weiß wäre, könnte ich auf jede Schule gehen, die mir gefällt.“
    „Außer auf die für die farbigen Kinder.“
    „Ich würde Anne Marie und Mignon schrecklich vermissen.“
    „Ein guter Grund, nicht weiß sein zu wollen.“
    Sie wich ein Stück zurück, um ihm ins Gesicht zu sehen.
    „Warum ist meine Mutter mit einer Weißen befreundet gewesen?“
    „Das kannst du sie gleich selbst fragen.“
    „Violet hat einen Weißen geheiratet.“
    „Violet wird den Rest ihres Lebens so tun müssen, als wäre sie etwas, das sie gar nicht ist“, wandte Rafe ein.
    „Ich verstehe nicht, warum.“
    „Das wirst du auch nie.“
    Aurore konnte es nicht ertragen, noch länger draußen im Flur zu stehen. Sie konnte die Hindernisse zwischen ihnen nicht länger ertragen. Schließlich klopfte sie an und trat ein. Dann hielt sie inne. Sie hatte Angst, näher zu kommen. Nicolette machte einen kleinen Knicks, als hätte sie es vorher so einstudiert. „Hallo.“
    Aurore rührte sich noch immer nicht. Sie blickte zu Rafe. Es tat einfach zu weh, ihre Tochter zu sehen – so nahe und gleichzeitig so weit entfernt. „Rafe?“
    „Kommen Sie herein, Mrs Friloux! Das hier ist Nicolette.“ Aurore musste sich dazu zwingen, weiterzugehen. Sie bewegte sich so langsam, dass der Raum plötzlich viel größer und länger wirkte, als er es tatsächlich war. Direkt vor Nicolette blieb sie stehen. „Erinnerst du dich noch an mich?“, fragte sie.
    Nicolette schien ihr Gedächtnis zu durchforsten. „Ich glaube, nicht.“
    „Wir sind uns vor langer Zeit schon einmal begegnet. Damals warst du erst sechs. Du bist zu mir in die Kutsche gestiegen, und ich habe dir ein Medaillon geschenkt.“
    „Oh.“ Sie sah zu ihrem Vater, als würde sie sich dunkel daran erinnern, dass er ihr das Schmuckstück weggenommenhatte. „Das habe ich nicht mehr.“
    „Ich weiß.“
    Aurore wandte sich an Rafe: „Können wir uns setzen?“ „Ich lass euch allein“, gab er zurück.
    „Allein?“
    „Ja. Ich denke, das wäre das Beste.“ Er legte einen Arm um Nicolettes Schultern. „Ich bin gleich zurück.“
    Aurore wünschte sich von ganzem Herzen, Rafe würde bleiben. Für einen Moment glaubte sie, dass er seine Meinung noch ändern würde, weil er sich nicht regte. Sie sahen sich in die Augen – wie Leute das taten, wenn sie reden wollten, aber nicht genau wussten, was sie sagen sollten. Dann verließ er das Zimmer.
    Nicolette stand ganz still da und wartete, dass sie das Wort ergriff. Endlich fand Aurore ihre Stimme wieder. „Sollen wir uns hinsetzen?“
    „Von mir aus, gern.“
    Auf der anderen Seite des Raumes stand eine Bank,

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