Bis zur letzten Luge
berührte sein Gesicht und prägte sich alles ein – jeden feinen, jeden kräftigen Zug, das Gefühl seiner Haut. „Vergiss nie, dass ich dich geliebt habe! Vergiss es nie, wohin du auch gehst. Das ist alles, was ich dir als Andenken geben kann.“
Er küsste sie, und sie wechselten kein Wort mehr. Ihre Körper drückten das aus, was sie nicht aussprechen konnten.
Nachdem er gegangen war, zog sie sich im Schutz der Schatten an. Es war fast Morgen, als sie schließlich zum Gästehaus zurückkehrte und ihre Sachen für die Abreise zusammenpackte.
29. KAPITEL
S ie durfte Nicolette nicht verraten, wer sie wirklich war.
Aurore faltete Rafes Brief zusammen und sah sich im Zimmer nach einem geeigneten Versteck um. Nachdem der Brief an diesem Morgen angekommen war, hatte sie ihn unter ihre Matratze geschoben. Ihr Schlafzimmer war sparsam eingerichtet. Die Möbelstücke waren aus Zypressenholz gefertigt und im frühen neunzehnten Jahrhundert von Kunsthandwerkern aus Louisiana hergestellt worden. Doch weder die blank polierten Schränke mit ihren kunstvollen Schnitzereien noch die Vitrinen boten in ihren Augen einen sicheren Ort, um ein Geheimnis zu verwahren.
Ein Feuer brannte im Ofen und wärmte den Raum gegen die kühlen Novembertemperaturen. Während in den Vereinigten Staaten das Ende des Krieges gefeiert wurde, war die tödliche Spanische Grippe im Land ausgebrochen. Aurore heizte im ganzen Haus und hielt Hugh von Menschenmengen und von Henry fern, der jeden Tag am Flussufer verbrachte. In der Vergangenheit waren Epidemien durch Schiffe aus fernen Ländern eingeschleppt worden; Aurore befürchtete, dass die Grippe sich genauso verbreiten könnte.
Schweigend ging sie noch einmal den Inhalt von Rafes Nachricht durch. Am Freitag würden er und Nicolette sie in einer Wohnung über einem Laden im French Quarter erwarten, der Rafe gehörte. Die alte Frau, die das Apartment angemietet hatte, war verreist und hatte Rafe erlaubt, ihre Räume während ihrer Abwesenheit zu nutzen. Aurore durfte Nicolette nicht verraten, wer sie wirklich war.
Glaubte Rafe ernsthaft, dass sie dazu überhaupt den Mut besitzen würde?
Sie ging zum Ofen. Seit sie den Brief erhalten hatte, war ihr klar gewesen, dass sie ihn dem Feuer übergeben musste.
Sie wollte ihn nicht verbrennen. Selbst jetzt betrachtete sie noch die schwungvollen Linien. Rafes Handschrift spiegelte seine Persönlichkeit wider. Sie hatten miteinander ein Kind gezeugt – und trotzdem blieb ihr nichts von ihm.
Nur ein Häufchen Asche lag noch im Ofen, als Aurore hörte, wie hinter ihr die Tür geöffnet wurde. Ohne sich umzudrehen, erkannte sie bereits an den Schritten, wer durch das Zimmer auf sie zukam. Sie rieb die Hände aneinander, als würde sie sich am Feuer aufwärmen wollen. „Wir haben dir etwas vom Abendessen übrig gelassen, Henry. Sally hat Brathähnchen gemacht, und es gibt Kroketten und Rübenmus.“
Bevor er sie erreicht hatte, wandte sie sich um. Sie konnte sich am besten schützen, wenn sie genau einschätzen konnte, was sie erwartete. „Es tut mir leid, dass ich schon ohne dich gegessen habe. Möchtest du, dass ich mich zu dir setze und dir Gesellschaft leiste?“
„Du bist ja so barmherzig!“
„Ich gebe mein Bestes.“ Sie schenkte ihm das kühle, unergründliche Lächeln, das nur für ihn reserviert war. Und sie bemerkte sofort, dass er getrunken hatte, auch wenn es nicht für jeden offensichtlich gewesen wäre. Er konnte viel Whiskey trinken, der für gewöhnlich seine Laune noch verstärkte. Aber den Alkohol hatte sie nie für Henrys Übergriffe und Grausamkeiten verantwortlich gemacht.
„Zu wem bist du noch so barmherzig, Rory?“
„Was meinst du damit?“
„Zu wem sonst?“
Sie suchte nach einer passenden Antwort. „Ich versuche, Hugh glücklich zu machen, ohne ihn dabei zu verziehen. Dann bin ich so freundlich wie möglich, wenn es um das Geschäft geht …“
„Und Rafe Cantrelle? Bist du zu dem auch barmherzig?“ Sie achtete darauf, sich den Schock nicht anmerken zu lassen. Mit gesenkter Stimme erwiderte sie: „Ich bitte dich. Dasist schon so lange her … noch bevor wir geheiratet haben. Willst du mich ewig für etwas bestrafen, das passiert ist, ehe wir uns kennengelernt haben?“
Er bewegte sich so schnell, dass ihr zum Zurückweichen keine Zeit blieb. Mit beiden Händen packte er ihren Hals und presste die Handballen auf ihre Kehle. „Dann reden wir doch mal über Grand Isle.“
Vergeblich versuchte sie sich zu
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