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Bis zur letzten Luge

Bis zur letzten Luge

Titel: Bis zur letzten Luge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richards Emilie
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auf der verblasste Kissen aus Samt und Satin lagen. Sie nahmen Platz, und Nicolette strich mit den Fingern über den Samt.
    Wo sollte sie bloß anfangen? Aurore wusste, dass ihr nur wenig Zeit blieb. Wenige Minuten, um die Fragen zu stellen, die sie ihr ganzes Leben lang beschäftigt hatten. Wenige Minuten, um sich jedes süße Detail an dem Kind einzuprägen – ihrem eigenen Kind, das sie niemals wiedersehen würde. „Nicolette, was hat dein Vater dir über mich erzählt?“
    „Er hat gesagt, dass Sie meine Mutter gekannt haben. Er meinte, dass Sie mich sehen wollten, bevor wir von hier weggehen.“
    „Richtig.“
    Nicolette sah auf und wirkte erwartungsvoll. „Kannten Sie sie gut?“
    Aurore senkte den Blick. „Ja.“
    „Hat sie eine kleine Tochter gewollt? Was glauben Sie?“ „Das hat sie! Sie hat sich sehr auf ihre Tochter gefreut. Siewäre so stolz auf dich! Sie hätte dich sehr geliebt, Nicolette.“
    „Glauben Sie?“
    „Da bin ich mir vollkommen sicher.“
    Nicolette fuhr mit einem Zeh über den Teppich. „Hat sie für Sie gearbeitet?“
    „Nein. Wir waren … Freundinnen.“
    „Wollten Sie mich deshalb treffen? Um zu gucken, ob ich ihr ähnlich sehe?“
    „Ich habe an dich gedacht, seit sie gestorben ist. Ich wollte nur sicher sein, dass du glücklich bist.“ Aurore zwang sich zu einem Lächeln. „Und dass es dir gut geht.“
    „Oh, ich bin nie krank.“ Offenbar konnte Nicolette keinen Moment länger stillsitzen. Sie fing an, abwechselnd ihre Beine zu kreuzen. Es wirkte beinahe wie ein Tanz.
    „Bist du froh, dass ihr umzieht?“
    „Klar. Ich meine, ja. In Chicago darf ich mit der Straßenbahn fahren. Und da kann ich sitzen, wo ich will.“
    „Chicago?“
    „Dahin ziehen wir“, antwortete Nicolette mit gerunzelter Stirn. „Ich weiß gar nicht, ob ich Ihnen das erzählen durfte. Papa hat gesagt, dass ich niemandem verraten soll, wo wir hingehen. Aber ich weiß nicht, ob er Sie auch damit meinte.“
    „Was machst du denn dort?“
    „Ich muss zur Schule gehen. Aber ich bekomme auch wieder Musikunterricht. Mögen Sie Musik?“
    „O ja.“
    „Mein Freund Clarence lebt da jetzt, und er wird mich unterrichten. Clarence spielt Klavier. Er ist viel besser als alle anderen. Sogar besser als Jelly Roll oder Tony Jackson. Zumindest sagen das alle. Ich habe die beiden nie gehört.“ Erneut legte sie die Stirn in Falten. „Aber eines Tages werde ich das vielleicht. Meinen Sie das auch?“
    „Ich hoffe es. Dein Vater hat mir erzählt, dass du gerne singst.“
    „Ich singe die ganze Zeit. Manchmal muss er mir sagen, dass ich es lassen soll.“ Sie beugte sich vor und betrachtete stirnrunzelnd Aurores Gesicht. Aurore wusste nur allzu gut, wohin das Kind starrte. „Sind Sie hingefallen und haben sich verletzt?“
    „Ich bin hin und wieder ein echter Tollpatsch.“
    „Ich auch. Papa meint, ich muss lernen, ruhiger zu werden.“
    „Ich kann mir nicht vorstellen, warum.“
    „Weil ich damit allen auf die Nerven falle. In der Schule habe ich für Betragen die allerschlechteste Note bekommen, und in Französisch bin ich die Schlechteste von allen.“
    „Du bist wunderschön und intelligent und überhaupt ein ganz tolles Mädchen.“
    „Glauben Sie, dass meine Mutter mich gemocht hätte?“ „Sie … hätte dich vergöttert.“
    „Wie hat sie ausgesehen?“
    Aurore zögerte. „Wie stellst du sie dir denn vor?“ „Groß. Wun-der-schön. Mit so einem Lächeln wie das von den Frauen in den Filmen. Ungefähr so.“ Sie verzog die Mundwinkel zu einem breiten Lächeln. „So hübsch wie diese Schauspielerinnen, die GishSchwestern.“
    Aurore lächelte ebenfalls. „Das ist eine gute Beschreibung.“
    „Ich weiß gar nicht, ob ich in Filmen auftreten oder bloß singen will.“
    „Würdest du jetzt etwas für mich singen?“
    Rafe hatte ihr erzählt, dass Nicolette für gewöhnlich nicht zögerte, wenn man sie darum bat. Musik war ihre große Leidenschaft, und sie gab ihr so viel Geborgenheit wie die Umarmung ihres Vaters. Doch in diesem Moment wirkte das Mädchen mit einem Mal schüchtern.
    „Bitte?“, fragte Aurore.
    Langsam erhob Nicolette sich. „Manchmal singe ich einenBlues. Mögen Sie Blues?“
    „Dabei kommen mir immer die Tränen.“
    „Na ja, wenn Sie weinen müssen, dann sehe ich, dass ich ihn richtig gesungen habe.“
    „Dann los.“
    „Ich kenne auch ein paar lustige Lieder, bei denen die Leute lachen müssen. Vielleicht sollte ich lieber eines davon singen.“
    Aurore

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