Bis zur letzten Luge
verstummte.
Sie schlang ihre Arme um seine Taille und hielt ihn fest. Er spürte ihre Dankbarkeit und schämte sich fast ein bisschen dafür.
„Dann wirst du bei uns bleiben?“, fragte sie.
„Bis der Sturm vorüber ist.“
„Ein Sturm hat meinen Vater das Leben gekostet. Er und meine Onkel waren draußen auf dem Meer. Ein Sturm kam auf. Wochen später wurde das Boot an Land gespült – voll mit verfaultem Fisch, Fisch, den man über die ganze Chénière riechen konnte. Aber von den Männern fehlte jede Spur.“ Sie erschauderte.
Noch nie hatte sie ihm etwas über ihre Vergangenheit erzählt. Lucien hielt sie in den Armen, und ihm wurde klar, wie viel Angst sie haben musste.
Raphael erhob sich vom Bett, auf dem er und Angelle gesessen hatten. „Monsieur Lucien, wenn der Sturm noch stärker wird, werden wir in die Kirche gehen.“
„Sei nicht albern! Blitz und Donner kommen schnell näher. Wir sind sicherer, wenn wir nicht rausgehen. Wir werden tun, was wir können, um das Haus wasserdicht zu machen, und den Sturm hier aussitzen.“
„Aber der Wind!“
Lucien starrte Raphael an. Plötzlich waren die schwarzenLocken des Jungen nicht mehr die unschuldigen seidigen Locken seiner Kindheit; seine Haut war nicht braun, weil er so viele Stunden in der Sonne am Meer verbracht hatte. Und seine Nase – wie hatte Lucien übersehen können, dass sie stärker und breiter war als die Nase von Marcelite?
Bei allem, was ihm heilig war, das Kind war wie ein Sohn für ihn gewesen! Wie hatte er nicht sehen können, dass in Raphaels Adern unreines Blut floss? Die Anzeichen seines unreinen Blutes waren die ganze Zeit über da gewesen, doch Lucien war durch seine Vernarrtheit in Marcelite einfach blind gewesen.
Er kannte die Strafe für eine solche Fehleinschätzung. Die Gesellschaft untersagte eine Vermischung der Rassen. Die Grenze zwischen den Farben durfte nicht überschritten werden – und doch hatte Marcelite sie auf die niederträchtigste Art verletzt. Lucien hatte wieder und wieder mit ihr geschlafen, hatte sich in ihrem weichen Fleisch verloren, wann immer es möglich war. Und hatte dabei nicht geahnt, dass der Sohn einer Sklavin sie auch schon gehabt hatte.
Zorn erfüllte ihn. „Soll ich mich von einem Kind herumkommandieren lassen?“
Marcelite wandte sich ihrem Sohn zu und sprach so schnell, dass Lucien das meiste nicht verstehen konnte. Aber es war klar, was sie ihm gesagt hatte, als Raphael zögerlich nickte. Der Junge ließ Lucien nicht aus dem Blick. Nicht eine Sekunde.
Marcelite drehte sich wieder zu Lucien um. „Er versucht nur, eine Hilfe zu sein.“
„Koch uns Kaffee, und mach was zu essen! Ich werde nachschauen, was draußen noch zu tun ist.“
„Raphael kann dir helfen.“
Lucien dachte darüber nach. Die Vorstellung, dass der Junge durchnässt und frierend im Regen stand, erfreute ihn. „Ja, das wäre gut.“
Wieder redete sie auf ihren Sohn ein, doch er rührte sich nicht.
„Raphael, wenn du dabei helfen willst, dass deine Mutter und deine Schwester in Sicherheit sind, dann solltest du mit mir kommen.“ Lucien ging zur Tür und warf einen Blick zurück. „Wenn es dir egal ist …“
Der Junge zuckte bei Luciens Worten zusammen. Dann folgte er Lucien hinaus.
Raphael beobachtete, wie seine Mutter Lucien eine weitere Tasse Kaffee einschenkte. Ihm war kalt, und er hatte Hunger, aber er wusste, dass sich seine Mutter, solange Monsieur Lucien da war, zuerst um dessen Bedürfnisse kümmern würde. Erst gestern hatte er sich noch gewünscht, dass Lucien auch sein Vater sein könnte. Jetzt war er sich nicht mehr sicher. Sah sein eigener Vater aus dem Himmel zu und war traurig?
Raphael dachte darüber nach, als seine Mutter sich vorbeugte und Lucien etwas ins Ohr flüsterte. Draußen blies der Wind immer stärker, als wollte er damit verhindern, dass Raphael hörte, was seine Mutter sagte.
Angelle legte ihre Puppe auf seinen Schoß. Die Puppe starrte ihn mit leerem Blick an. Ihr blaues Kleid war zwar zerschlissen, doch die Seide war noch immer feiner als alles, was Raphael je gesehen hatte. Einmal hatte seine Mutter ihm erzählt, dass es in New Orleans Frauen gab, die immer Seide trugen, und dass Männer wie Monsieur Lucien immer mit Kutschen durch die Stadt fuhren, die von glänzenden, tänzelnden Pferden gezogen wurden.
Raphael glaubte nicht, dass Lucien wirklich hier sein wollte. Für gewöhnlich neckte er Marcelite und lachte mit ihr. Heute saß er schweigend da, als würde ihm
Weitere Kostenlose Bücher