Bis zur letzten Luge
nichts einfallen, worüber er lachen könnte. Er hatte Angelle nicht auf den Schoß genommen. Er hatte Raphael nicht die Locken gezaustoder ihn gefragt, ob er nach einem Piratenschatz gegraben habe.
Raphael hätte ihm wahrscheinlich sowieso nicht von Juans geheimnisvollen Anweisungen erzählt – nicht einmal, wenn Lucien gefragt hätte. Obwohl Raphael nicht verstand, warum Juan ihn mit in den Sumpf genommen hatte, wusste er, dass ihr kleiner Ausflug ein Geheimnis bleiben sollte.
Seine Mutter hatte noch zwei Schüsseln mit Gumbo und Krebsfleisch gefüllt und rief die Kinder an den Tisch. Lucien erhob sich und durchquerte das Zimmer, als sie sich setzten. Er öffnete die Tür nicht, sondern spähte durch einen Spalt neben dem Rahmen.
„Der Regen wird stärker.“
„Dann komm da weg“, entgegnete Marcelite.
Raphael nahm den ersten Löffel voll Gumbo. Normalerweise waren viele Krebse und Okraschoten im Eintopf, und er war würzig genug, um den kältesten Bauch zu wärmen. Doch heute schien seine Mutter beim Kochen mit den Gedanken woanders gewesen zu sein.
„Die Stürme sind hier schlimmer, nicht wahr?“, fragte Lucien. „Wie ein Strafgericht Gottes. Ich denke, ich würde mich vor ihnen fürchten, wenn ich so nahe am Wasser wohnen würde.“
„Dann sei froh, dass du nicht so nah am Wasser lebst.“ Raphaels Mutter schnitt Brotscheiben für die Kinder ab und legte sie ihnen hin.
„Und hilflos. Ich denke, ich würde mich auch hilflos fühlen.“
„Das ist nicht anders als an anderen Orten auch.“
„Trotzdem fordert man doch das Schicksal heraus, wenn man an einem Ort lebt, an dem der Wind einen fortwehen kann, nicht wahr?“
Raphael hörte auf zu essen und beobachtete seine Mutter. Doch sie schwieg. Sie wischte die Brotkrümel in ihre Hand,um sie in eine Vorratsdose zu tun. Ihre Hand zitterte ein wenig, und ihre Lippen hatte sie zu einer schmalen Linie zusammengepresst.
„Wir sollten hinauf zur Kirche gehen“, sagte Raphael. Lucien wandte sich von der Tür zu ihm um. „Was weißt du denn schon?“, knurrte er.
Raphael fing den Blick seiner Mutter auf. Sie schüttelte den Kopf. Er biss sich auf die Lippen.
„Du bist doch nur ein Kind!“, fuhr Lucien fort. „Ein Kind, das unerzogen und zu selten bestraft worden ist.“
„Raphael ist ein guter Junge“, mischte seine Mutter sich ein.
„Du hast wenig von seinem Vater erzählt.“ Lucien ging zum Tisch. „War sein Vater auch stur?“
Marcelites Augen huschten zu ihrem Sohn. „Sein Vater war vieles.“
„Würdest du sagen, dass er stur war?“
„Ich hätte ihn nicht so beschrieben.“
„Und wie hättest du ihn beschrieben?“
„Stolz.“ Sie sah ihm in die Augen. „Stolz und mutig, genauso wie es sein Sohn einmal sein wird.“
„Hat dein Sohn denn einen Grund, stolz zu sein?“
„Wir werden nicht weiter darüber sprechen.“
„Es gibt viele Dinge, über die wir nicht gesprochen haben.“ Lucien blickte auf Raphael hinab. „Der Vater des Jungen ist nur eines davon.“
Wimmernd kletterte Angelle von ihrem Stuhl herunter. Der scharfe Ton der Erwachsenen machte ihr Angst. Das Wimmern hörte auf, als ihre bloßen Füße den Boden berührten. Überrascht sah sie Raphael an. Dann setzte sie sich auf die Dielen aus Treibholz, die mit einem Teppich aus geflochtenen Palmblättern bedeckt waren, und fing an, mit den Händen vor und zurück zu streichen.
Raphael senkte den Blick, konnte jedoch nichts erkennen.Er sprang von seinem Stuhl und stellte sich neben seine Schwester. „Der Boden ist nass“, bemerkte er.
„Kein Wunder – wenn man bedenkt, wie durchlöchert diese erbärmliche Hütte ist“, dröhnte Lucien.
Marcelite bückte sich. „Der Boden war noch nie so nass. Das ist mehr als nur der Regen.“
„Der Wind bläst die Nässe auch von der Seite herein.“ „Das Wasser kommt unter der Tür durch.“ Raphael zeigte auf den Spalt unter der Eingangstür. „Seht doch.“
„Raphael hat recht“, nickte seine Mutter. Sie richtete sich wieder auf und ging zur Tür. „Es strömt unter der Tür durch. Was bedeutet das, Lucien?“
Er stieß einen Fluch aus. Raphael ging zur Seite, um dem Mann nicht im Weg zu stehen. An der Tür blieb Lucien hinter Marcelite stehen und blickte nach draußen. Einen Moment lang schwiegen die beiden. Unbekümmert ließ Angelle ihre Puppe auf der nassen Palmenmatte tanzen.
„Der Boden ist mit Wasser bedeckt“, sagte Marcelite. „ Bedeckt , Lucien! Das habe ich noch nie gesehen.“
„Der
Weitere Kostenlose Bücher