Bis zur letzten Luge
Regen ist heftig. Der Boden kann die Nässe nicht so schnell aufnehmen. Wenn der Regen nachlässt, wird das Wasser abfließen.“
„Noch nie hat es sich so gesammelt.“ „Jeder Sturm ist anders.“
„ Mais oui , und manche Stürme sind besonders stark.“ Marcelite ging in die Knie und strich mit der Hand über den Boden. Dann nahm sie einen feuchten Finger an den Mund und leckte mit der Zunge über die Spitze. „Es schmeckt salzig!“
Lucien starrte sie einen Augenblick lang an. Dann bückte er sich und tat es ihr gleich. Als er sich wieder aufrichtete, machte seine Miene Raphael Angst. „Hol meinen Mantel.“
Marcelite eilte zu dem Haken aus Holz an der Wand und nahm den Mantel herunter. Lucien riss ihn ihr aus der Hand.
„Bleib weg von der Tür!“, rief er. „Raphael, hilf deiner Mutter, die Tür zu schließen, wenn ich weg bin!“
Wasser strömte ins Haus, als er die Tür aufmachte. Er verschwand im Regen, und Marcelite und Raphael mühten sich ab, die Tür hinter ihm zu schließen. Marcelite sicherte sie mit einem Seil und einem Holzpflock.
„Zünde die Kerzen im Schrein an“, trug Marcelite Raphael auf. „Beeil dich. Wir müssen ein letztes Gebet sprechen.“
„ Maman , die Kirche …“
„Es ist schon zu spät, um so weit zu laufen. Wir müssen uns einen anderen Unterschlupf suchen, aber zuerst müssen wir beten. Dann sammeln wir zusammen, was wir tragen können.“ Sie sprach leise und ruhig, und er wusste, dass sie versuchte, Angelle keine Angst zu machen. „Du musst tapfer und mutig sein.“
„Wie mein Vater?“
Sie strich ihm mit dem Handrücken über die Wange. „Es gibt so vieles, das ich dir nie erzählt habe.“
„Juan hat gesagt, dass mein Vater ein guter Mensch war.“ „Das war er.“
Raphael wollte ihr noch mehr Fragen stellen, doch seine Mutter ging schon an ihm vorbei. „Zünde die Kerzen an“, wiederholte sie. „Wir werden noch genug Zeit zum Reden haben, wenn wir in Sicherheit sind und der Sturm vorüber ist.“
Als Lucien zurückkehrte, hatten sie ihre Gebete gesprochen und ihre Sachen gepackt. Die Kinder waren in ihre durchnässten Mäntel gehüllt, und Marcelite hatte Raphael bereits sein kleines Bündel auf den Rücken gebunden. Als sie Luciens Rufe an der Tür hörte, löste sie den Holzpflock und das Seil. Lucien brachte Sturm und Regen mit herein.
„Die Gezeiten haben gewechselt. Ich habe mein Boot geholt. Wir sind hier nicht mehr sicher. Wellen schlagen über einen großen Teil der Halbinsel. Am Strand konnte ich nicht mehr stehen und wäre beinahe unter Wasser gezogen worden.
Ich habe einen Hund gesehen, der hinausgetrieben wurde. Einige Bootshäuser sind verschwunden.“
„Wo sollen wir hin?“
„Ich bin an einem Haus vorbeigekommen, das nicht so nahe am Strand steht. Niemand hat aufgemacht, als ich geklopft habe.“ Er beschrieb Marcelite, wo das Haus stand.
Marcelite nickte. „Es gehört Julien LeBlanc und seinem Sohn. Sie sind wahrscheinlich bei den Austernbänken.“
„Ich will nicht das Risiko eingehen, mit den Kindern weiter als unbedingt nötig durch den Sturm zu laufen. Wir werden zu dem Haus gehen. Ich bin sicher, dass sie uns Unterschlupf gewähren würden, wenn sie zu Hause wären.“
„Da bin ich mir nicht so sicher.“ „Genug! Das ist jetzt egal.“
„ Non . Du hast recht.“ Marcelite ging zum Bett und nahm das Bündel auf den Rücken. Sie hatte zwei Knoten gemacht, damit sie die Arme hindurchstecken konnte und das Bündel fest auf ihrem Rücken saß. Dann griff sie nach ihrem Mantel und legte ihn sich um. Schließlich bückte sie sich und streckte die Arme nach Angelle aus.
„Du und Angelle könnt im Boot fahren. Raphael und ich werden das Boot ziehen, solange der Junge noch im Wasser stehen kann.“
„Ist es denn schon so tief?“
„Während wir hier reden, steigt es immer weiter an!“ Marcelite hielt Angelle fest und gab Raphael ein Zeichen, zu ihnen zu kommen. Er kam an dem Schrein vorbei und blieb stehen, um die Kerzen auszublasen, aber der Wind, der durch die Ritzen und Spalten pfiff, hatte das schon erledigt. Raphael machte ein Kreuzzeichen, ehe er zu seiner Mutter lief.
Als er nach draußen trat, stockte ihm der Atem. So hatte er die Welt noch nie gesehen. Der Himmel war dunkel, aber unentwegt zuckten Blitze – beinahe wie Funken, die aus einergöttlichen Laterne stoben. Der Wind trieb ihn vorwärts, und nur der Arm seiner Mutter verhinderte, dass er im Wasser landete, das ihm bis zu den Knien reichte.
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