Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bis zur letzten Luge

Bis zur letzten Luge

Titel: Bis zur letzten Luge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richards Emilie
Vom Netzwerk:
zurückkehrte, verschwand er im angrenzenden Zimmer.
    Marcelite reichte Raphael ein Handtuch aus rauem Leinen und benutzte ein weiteres, um Angelle abzutrocknen.
    „Wir haben uns einen guten Ort ausgesucht“, rief Lucien aus dem hinteren Teil des Hauses. „Es ist stabil gebaut, und es gibt nicht viele Fenster.“
    Angelle klammerte sich an ihre Mutter und schluchzte. Marcelite hob sie hoch und wiegte sie liebevoll hin und her, als Lucien wieder ins Zimmer trat. „Hinten gibt es ein Bett. Dort können die Kinder schlafen“, sagte er. „Ich habe eine Lampe brennen lassen.“
    „Angelle ist erschöpft.“ Marcelite drückte sie an sich.
    Raphael widersprach. Er war nicht müde; er wollte wach bleiben und den Sturm beobachten. Nachdem er jetzt nicht mehr im Sturm war, kam er ihm wie das Aufregendste vor, was ihm je passiert war.
    Lucien wandte ihnen den Rücken zu. „Du wirst ins Bett gehen.“
    Marcelite legte ihre Hand auf Raphaels Schulter. Er wusste,was diese Geste ihm sagen sollte, aber er wollte nicht so leicht aufgeben. „Ich könnte helfen, Maman . Ich könnte beobachten, ob das Wasser steigt.“
    „Du wirst es gleich von draußen beobachten, wenn du nicht tust, was ich dir sage“, entgegnete Lucien.
    „Du bist nicht mein Vater!“
    Lucien wirbelte herum, und Raphael konnte sehen, wie wütend er war. „In dem Punkt bin ich mir wenigstens sicher! Es ist nicht mein Blut, das dich zu dem gemacht hat, was du bist.“
    Marcelite umklammerte Raphaels Schulter und zog ihn mit sich in den hinteren Teil des Hauses. „Raphael, du gehst ins Bett. Jemand muss bei Angelle bleiben, sonst bekommt sie Angst.“
    Raphael wollte schreien, dass er inzwischen froh war, dass Monsieur Lucien nicht sein Vater war, doch sein Mut verließ ihn. Wenn er jetzt mit Lucien stritt, würde es seiner Mutter sehr wehtun.
    In einem der zwei hinteren Zimmer stand ein gemütliches Bett. So etwas Schönes hatte Raphael noch nie gesehen. Marcelite legte Angelle auf das Bett und deckte sie mit einer Patchworkdecke zu, die zusammengefaltet am Fußende gelegen hatte. Zögerlich kletterte Raphael zu Angelle. Marcelite deckte ihn ebenfalls zu.
    „Schlaf jetzt.“
    „Wann hört der Sturm auf?“, fragte er.
    „Bald.“
    „Wird unser Haus morgen noch stehen?“
    „Ich weiß es nicht. Bete, dass es so sein wird.“
    „Warum ist Monsieur Lucien heute so wütend auf mich?“ Marcelite schwieg. „Monsieur Lucien macht sich Sorgen wegen des Sturmes. Es sieht nur so aus, als wäre er wütend“, sagte sie schließlich.
    Raphael glaubte ihr nicht, aber das konnte er ihr nicht sagen.
    „Pass auf Angelle auf“, bat sie ihn. „Halte sie warm.“ Sie beugte sich herunter und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Dann küsste sie Angelle, die schon eingeschlafen war. „Morgen früh scheint die Sonne wieder.“
    Draußen heulte der Wind, und durch das Fenster beobachtete Raphael die skelettartigen Zweige des Zedrachbaumes, die sich in den Himmel reckten. Er versuchte sich den Sonnenschein vorzustellen, doch als seine Mutter ging und die Lampe mitnahm, war es nur der Sturm, den er sah. Selbst als er die Augen schloss.

7. KAPITEL
    Z u Hause in New Orleans war der Sonntag Aurores Lieblingstag. Es war der einzige Tag, an dem es ihr erlaubt war, durch die Stadt zu fahren. Weil sie für gewöhnlich vor der ständigen Bedrohung durch Krankheit geschützt wurde, waren diese Ausflüge die einzige Möglichkeit, die Welt und das Leben außerhalb des Hauses zu sehen. Jeden Sonntag besuchten ihre Eltern und sie die Messe in der prunkvollen St. Louis Cathedral; anschließend fuhr die Familie zu grand-père Antoine, wo sie ein frühes Abendessen zu sich nahm.
    Im Gegensatz dazu waren die Sonntage bei Krantz immer nur weitere Tage voller Staunen und neuer Möglichkeiten. Die Zeit trieb in der duftenden Sommerbrise dahin. Diejenigen, die nicht zur Messe auf die Chénière fuhren, genossen vielleicht einmal die eine oder andere ruhige Stunde, aber der Rest des Sonntages war wie jeder andere Tag ausgefüllt mit lässigen Sommeraktivitäten.
    Sonntagabends fanden im salon de danse oft Tanzveranstaltungen statt. Der salon de danse war der halbe Speisesaal, der zu dem Zweck schon am Nachmittag umgebaut wurde. Ein Kind, das nur aufmerksam genug war, bemerkte auf der Tanzfläche die glühenden Blicke zwischen den jungen Dandys aus den Reihen der Junggesellen und den kreolischen Schönheiten aus den Reihen der Witwen, die den Sommer in Häuschen verbrachten, die einander

Weitere Kostenlose Bücher