Bis zur letzten Luge
die Hornissen sich auf die erstbesten Opfer gestürzt. Faustin hüpfte wild um sich schlagend und laut fluchend von einem Fuß auf den anderen. Étienne, der ebenfalls angegriffen wurde, packte die Hand seines Vaters, als wollte er ihn wegziehen.
Die restliche Szene spielte sich langsam ab, wie eine Uhr, die dringend aufgezogen werden musste. Eines der Pferde scheute – für die angriffslustigen Insekten ein neues Ziel, das nicht wegrennen konnte. Das andere Pferd warf sich von einer Seite zur anderen. In ihrer Not zerrten sie den Zaunpfahl, an den sie gebunden waren, aus dem Boden. Der Pfahl und ein gutes Stück des Zaunes wurden von den flüchtenden Tieren mitgerissen. Das Holz krachte gegen die Räder des Fuhrwerks, das von den davonjagenden Pferden die Straßen entlanggezogen wurde. Sie bewegten sich direkt auf Aurore und die anderen zu.
„Schnell! Aus dem Weg!“
Instinktiv sprang Aurore zur Seite und zog Ti’Boo mit sich. Hinter ihnen blieben Minette und zwei kleine Mädchen, die ihnen gefolgt waren, auf der Straße stehen. Sie schienen vom Anblick der schnaubenden Pferde, die auf sie zurasten, gefesselt zu sein.
„Minette!“ Ti’Boo wollte zu ihrer Schwester rennen, aber Minette, die die Gefahr plötzlich erkannt hatte, machte einen Satz zur Seite. Dabei stieß sie mit Aurore zusammen, die laut rufend zu den kleinen Mädchen laufen wollte. Einen Moment lang waren sie ein Knäuel aus Armen und Beinen; dann hatteAurore sich befreit und stürmte weiter auf die kreischenden Mädchen zu.
Hinter sich konnte sie Schreie hören, krachende Räder, schnaubende Pferde und klappernde Hufen. Sie verlor fast die Hoffnung, die Mädchen noch rechtzeitig zu erreichen. Die beiden waren durch den Anblick der Pferde, die direkt auf sie zujagten, so verängstigt, dass sie wie versteinert dastanden.
Aurore fürchtete, jede Sekunde zu Boden getrampelt zu werden. Sie hatte keine Zeit, um nachzusehen, wie nah die Pferde schon waren; sie konnte nur noch schneller rennen, auch wenn ihr der lange Rock im Weg war.
Sie hörte ein Rufen. Die Luft hinter ihr schien sich durch den herben Geruch und die Hitze der Pferde zu verdichten. Sie waren ganz nah. Mit ausgebreiteten Armen sprang sie zu den beiden Kindern und riss sie mit sich in den Graben neben der Straße. Erst jetzt hatte sie die Zeit, um zu schreien.
Sie schnappte nach Luft, um zu atmen, um zu schreien, als sich mit einem Mal Arme um sie schlossen.
„Ro-Ro, geht es dir gut?“
Ihr ging es gut. In diesem Moment wurde es ihr klar. Sie wusste nicht, warum, und sie wusste nicht, wie, doch es ging ihr gut. Und den beiden kleinen Mädchen, die neben ihr im Graben lagen und weinten, ging es auch gut.
Sie setzte sich auf und betrachtete die Straße. Étienne Terrebonne hing wie ein Anker an dem Geschirr der Pferde. Die Tiere hatten die Augen weit aufgerissen, aber während Aurore sich aufrappelte, beruhigten sie sich. Étienne, der ihnen in unverständlichem Französisch leise etwas zumurmelte, hatte sie beschwichtigt.
„Étienne hat sie eingefangen“, bestätigte Ti’Boo. „Ich habe noch nie jemanden gesehen, der schneller war – außer dir vielleicht.“
Eine Frau rannte die Straße entlang. Ihre lange weiße Schürze blähte sich im Wind. Sie schloss eines der Mädchenin die Arme und küsste die Kleine auf die Wangen und die Stirn, ehe sie das Kind auf die Beine zog und schüttelte. Eine andere Frau erschien, um dasselbe mit dem anderen Kind zu machen. Dann, nachdem die Geschichte ein paarmal erzählt worden war und die Frauen sich überschwänglich bei Aurore und Étienne bedankt hatten, der noch immer die Pferde festhielt, zogen die Mütter ihre weinenden Töchter mit sich fort.
Aurore klopfte sich den Staub vom Rock und holte ihren Hut, der ihr vom Kopf geflogen war. Ihre Hände zitterten ein wenig. Sie war erst ein paar Minuten im Dorf und schon eine Heldin. Mit jeder Nacherzählung der Geschehnisse klang die Geschichte dramatischer und dramatischer. Ihre im Grunde genommen selbstverständliche Handlung hatte inzwischen mythische Ausmaße angenommen. Sie hatte ihr Leben für die beiden kleinen Mädchen riskiert und sich im Angesicht des Todes und doch unerschrocken auf die Kinder geworfen.
Étienne drehte um. Die Pferde standen inzwischen vollkommen unter dem Bann seiner Stimme. Schweißperlen glitzerten auf seiner Stirn, und eine schlimme Beule auf seiner Wange zeugte von seiner Begegnung mit den Hornissen.
„Ihnen geht es also gut?“, fragte
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