Bis zur letzten Luge
Zuckerkessel Krebse. Der Duft erinnerte Phillip daran, dass er an diesem Tag viel zu wenig gegessen hatte.
Der Club befand sich in einem zweigeschossigen Eckhaus. Ein gusseiserner Balkon ging auf die mit Bäumen gesäumte Straße hinaus. Die Fenster mit den Fensterläden standen weit offen, um die kühle Abendbrise hereinzulassen. Vom Bürgersteig aus konnte Phillip Nickys Stimme hören, die den Straßenlärm übertönte.
Drinnen winkte er dem Barkeeper zu, der damit beschäftigt war, die Vorräte zu prüfen. Sein Stiefvater, Jake Reynolds, war nirgendwo zu sehen, also folgte er dem Klang von Nickys Stimme. Ihr Kleid war eng anliegend und rot, mit einem Rock, den einige Leute für eine Frau in ihrem Alter vermutlich für zu kurz hielten. Die Männer im Club sahen das natürlich anders.
Phillip setzte sich auf einen Stuhl im hinteren Teil des Raumes und lauschte, als sie ihren Song beendete, einen Song von James Brown. Nicky Valentine Reynolds – die Welt kannte sie als Nicky Valentine –, war eine gefeierte Jazz- und Bluessängerin. Ihre Stimme hüllte die Zuhörer ein wie ein weicher Pelzmantel. Sie konnte mit jeder Note, mit jedem Wort die leidenschaftlichsten Gefühle ausdrücken: die Reue eines ganzen Lebens, die Hitze eng umschlungener Körper in einer Sommernacht, die Freuden der ersten Liebe.
Wenn Nicky sang, erhoben sich Bruchstücke ihrer Seele in die Musik. Phillip wusste nicht, wie jemand die Probleme und Widersprüche der Welt so klar sehen konnte, doch Nicky besaß diese Fähigkeit. Und wenn sie zu Ende gesungen hatte, sah das Publikum diese Dinge auch ein bisschen klarer.
Am Ende des ersten Refrains entdeckte sie ihn und bewegte ihre Finger im Takt der Musik in seine Richtung. Als sie fertig war, stand sie noch ein paar Minuten mit der Band zusammen, ehe sie von der Bühne stieg und zu ihm ging.
„Was machst du denn hier?“
Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Dazu musste er sich nicht herunterbeugen; sie war nur wenig kleiner als er mit seinen Einsachtundachtzig. „Ich wollte mit dir reden. Hast du etwas Zeit, oder soll ich einen Termin vereinbaren?“
„Für dich habe ich doch immer Zeit.“
Er blickte sich um. Der Club füllte sich mit Angestellten, die sich auf einen hektischen Abend vorbereiteten. „Wohin können wir gehen?“
„Wir können vielleicht in der Bar eine ruhige Ecke finden. Red beans and rice stehen auf dem Herd, falls du Hunger hast.“ Rote Bohnen und Reis waren die Hauptbestandteile dieses für New Orleans und die Cajun-Küche so typischen Eintopfgerichts. Traditionell wurde es montags mit vom Wochenende übrig gebliebenen Schinkenknochen zubereitet; die Würze kam von geräucherten Würsten, Knoblauch und Tabasco. Und natürlich durfte auch hier die holy trinity , die CajunDreifaltigkeit, nicht fehlen: Zwiebeln, Paprika und Staudensellerie.
„Großartig.“
Sie ging voraus. „Ich glaube nicht, dass mir das Gespräch gefallen wird.“
„Wie kommst du darauf?“
„Ich höre es an der Art, wie du ‚großartig‘ gesagt hast.“ „Fang nicht an, irgendetwas in Dinge hineinzuinterpretieren.“
Sie blieb stehen. „Dann gibt es kein besonderes Thema, über das du sprechen willst?“
„Das habe ich nicht gesagt.“ Er legte den Arm um ihre Schultern und küsste sie aufs Haar. „Hör nur, wie du mir schon wieder zusetzt.“
In der Bar setzte er sich in eine Ecke, während Nicky etwas zu essen holte. Sie kam mit Schüsseln mit Eintopf und einem halben Baguette zurück. Der Barkeeper brachte ihnen einen Krug Bier.
Phillip stillte zuerst den größten Hunger, bevor er ihr den Grund für seinen Besuch nannte. „Ich habe heute einen seltsamen Telefonanruf bekommen.“
Sie aß weiter und wartete offensichtlich darauf, dass er weitersprach.
„Und?“, sagte er, als klar war, dass sie sich nicht dazu äußern würde. „Macht dich das nicht neugierig?“
Nicky brach sich ein Stück von dem Baguette ab. „Ich habe nicht gesagt, dass ich nicht neugierig bin. Ich weiß einfach nur, welche Art von Telefonanrufen du bekommst. Drohungen. Bestechungen. Wenn du mir nichts darüber erzählst, kann ich so tun, als hättest du einen Job, der dich nicht jede Woche in vorderster Front in Gefahr bringt.“
Phillip wechselte problemlos in die Sprache, die er als Kind gesprochen hatte: Französisch. Das tat er immer, wenn ihre Unterhaltungen emotional wurden. „Nicht jede Woche“, entgegnete er mit typischem Pariser Akzent.
„Oft genug jedenfalls, dass ich davon immer
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