Bis zur letzten Luge
Verehrer. Wusstest du das?“
„Jetzt schon?“
„Ich bin fast sechzehn. Maman war mit sechzehn schon verheiratet, mémère mit fünfzehn.“
„Es gibt also nur einen Verehrer? Und den willst du etwa heiraten?“
„ Mais non ! Wenn er zu mir nach Hause kommt, fege ich es gleich anschließend aus … um seine Liebe wegzufegen.“
Aurore unterdrückte ein Lächeln. „Und das funktioniert?“
„Ich glaube, ja. Er kommt jedenfalls schon viel seltener.“ „Er kommt seltener“, sagte Ti’Boo, die ins Zimmer kam, um die jüngeren Kinder wegzuschicken, „weil du so schroff zu ihm bist.“
„Das ist natürlich auch ein Grund“, stimmte Minette fröhlich zu.
„Liebst du denn einen anderen?“, fragte Aurore. „Bist du deshalb so abweisend?“
„Ich habe in unserem Brunnen das Gesicht meines zukünftigen Ehemannes gesehen. Jetzt muss ich nur noch darauf warten, dass er um mich wirbt.“
„In eurem Brunnen?“
„Ich glaube, ihr lernt in New Orleans nichts, was man wirklich wissen muss“, entgegnete Minette.
„Wenn man am Mittag in einen Brunnen blickt und Glück hat“, erklärte Ti’Boo, „kann man das Gesicht seines Auserkorenen sehen.“
„Hast du ihn gesehen?“
„Ich habe nichts erkannt. Und als ich mich über den Rand des Brunnens gebeugt habe, um genauer hinzusehen, wäre ich beinahe reingefallen.“
„Es ist fast Mittag!“ Minette klatschte in die Hände. „Aurore muss es versuchen.“
„Aber ich will gar nicht heiraten“, erwiderte Aurore. Plötzlich herrschte Schweigen – etwas sehr Ungewöhnliches im Hause Boudreaux.
Aurore fragte sich, wie sie es erklären konnte. Bis auf ihren kurzen Aufenthalt hier hatte sie keine glückliche Ehe erlebt. Nach den Maßstäben der Gesellschaft waren Ti’Boos Eltern arm, und trotz Clothildes schlechtem Gesundheitszustand arbeitetendie beiden unaufhörlich. Doch sie waren nur selten böse auf ihre Kinder oder aufeinander. Und wenn sie ein paar Minuten hatten, die sie nicht für irgendjemanden oder irgendetwas opfern mussten, verbrachten sie diese kostbare Zeit zusammen. Aurore hatte gesehen, wie sie sich im Vorbeigehen an den Händen berührten, und sie hatte gehört, wie sie spät in der Nacht leise und zufrieden miteinander sprachen.
Die Ehe ihrer eigenen Eltern war der völlige Gegensatz dazu. Schon seit Jahren glich ihr Zusammenleben nicht dem eines glücklich verheirateten Paares. „Ich denke anders über die Ehe als ihr“, versuchte sie, ihre Meinung zu begründen. „Sieh doch nur, was die Ehe aus meiner Mutter gemacht hat.“
Ti’Boo setzte sich neben sie auf das Bett und ergriff ihre Hand. „Ich habe noch nicht danach gefragt, weil ich dachte, es würde dich traurig machen. Geht es Madame Le Danois denn ein bisschen besser?“
Aurore überlegte, ob sie schwindeln sollte, aber die Wahrheit war eine Last, die leichter zu tragen war, wenn man sie teilte. „Vor sechs Monaten durfte ich sie zuletzt besuchen. Sie saß am Fenster und murmelte eine Liste von Namen – wie eine junge Mutter, die den Namen ihres Babys aussuchen will. Es waren alles Namen für Jungen.“
Unwillkürlich hatte Ti’Boo den Griff um Aurores Hand verstärkt. „Und du meinst, dass die Ehe ihr das angetan hat?“
„Sie hat sich so angestrengt, um meinen und ihren eigenen Vater glücklich zu machen. Ich glaube, sie hat nie darüber nachgedacht, was eigentlich ihre Wünsche waren – nur in jener Nacht, als der Hurrikan über die Insel fegte. Danach hat sie sich die Schuld an grand-pères Tod gegeben. Sein Name ist der erste auf der Liste der Namen, die sie immer wiederholt.“
„Aber sie hat ihn doch angefleht, das Cottage bei Krantz zu verlassen!“
„Ja. Ich erinnere mich.“ Aurore streichelte Ti’Boos Hand. Sie erinnerte sich auch noch an das fürchterliche, nicht endenwollende Heulen des Windes, an die Fehlgeburt, die ihre Mutter in jener Nacht erlitten hatte, an das Entsetzen, als sie erfahren hatten, dass ihr Großvater beim Einsturz des Hauses, das er für sicher gehalten hatte, ums Leben gekommen war. „Ich bin nicht gekommen, um dich dazu zu überreden, nicht zu heiraten. Doch für mich besteht keine Hoffnung, je aus Liebe zu heiraten. Woher soll ich wissen, dass ein Mann mich will und nicht nur mein Geld oder meinen Namen?“
Sie hatte Angst, eine schlimmere Möglichkeit laut auszusprechen. Was geschah, wenn sie versehentlich einen Mann wie ihren Vater heiratete, einen Mann, in dessen Augen Frauen nur Zierde oder Zuchtstuten waren?
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