Bis zur letzten Luge
Nicht anders erwartet man es.“
„Und Sie tun nicht immer das, was erwartet wird?“
„Oh, ich bin rebellischer, als Sie denken. Ich sollte eigentlich gar nicht hier sein. Ich sollte zu Hause sein und mich pflichtbewusst nach einem geeigneten Ehemann umsehen. Wenn mein Vater wüsste, dass ich zu Ti’Boos Hochzeit gekommen bin …“
„Ihr Vater findet es nicht gut, dass Sie die Reise unternommen haben?“
„Es gibt nur weniges an mir, das er gut findet.“
„Dann haben wir dieses Schicksal schon mal gemeinsam.“ Sie wandte den Kopf, damit sie ihn ansehen konnte. „Tatsächlich? Aber Sie arbeiten doch mit Ihrem Vater zusammen, oder?“
„Faustin Terrebonne ist eigentlich nicht mein Vater.“ Étiennes Profil war männlich markant, hob sich deutlich gegen den orangefarbenen Himmel ab. Sie bewunderte seine kräftige Nase, seine schön geschwungenen breiten Lippen. Sein Haar lockte sich hinter seinen Ohren und unterstrich noch die stolze Haltung seines Kopfes. „Wer ist dann Ihr Vater?“
„Mein richtiger Name ist Étienne Lafont. Ich wurde in Caminadaville auf Chénière Caminada geboren. Kennen Sie den Ort?“
Aurores Pulsschlag beschleunigte sich. Das war ein außergewöhnlicher Zufall! „Besser, als Sie denken. Ich war aufGrand Isle, als der Hurrikan auf die Küste traf, der Chénière zerstört hat.“
„Die Grand Isle wurde nicht so hart getroffen.“
Sie konnte nicht zulassen, dass er ihr Leid herunterspielte.
„Vielleicht nicht. Aber wenn Ti’Boos Onkel meine Mutter und mich nicht gerettet und mit zu sich nach Hause genommen hätte, dann wäre ich auch umgekommen.“
Er sah sie nicht an. „Fast tausend Menschen kamen ums Leben. Meine gesamte Familie starb. Ich wurde von den Wellen davongespült und klammerte mich an die Überreste eines kleinen Bootes, bis das Schlimmste überstanden war. Irgendwie gelang es mir, mich auf die Holzplanken zu ziehen, ehe ich ohnmächtig wurde. Als ich wieder zu mir kam, lag ich in einer Hütte in den Sümpfen. Faustin hatte den wenigen Überlebenden Vorräte gebracht, und offenbar war das Boot in die Sümpfe gespült worden. Er fand mich vier Tage nach dem Hurrikan.“
„Gott hat Sie aus einem besonderen Grund verschont, Étienne.“
„Das hat Zelma, Faustins Frau, auch immer gesagt. Ich bekam Fieber und schwebte wochenlang in Lebensgefahr. Als ich das Bewusstsein wiedererlangte, erfuhr ich, dass ich fortan Waise war. Zelma schwor, dass ich zu ihr gekommen sei, weil sie nie eigene Kinder haben konnte. Sie pflegte mich gesund. Sie war wie eine Mutter für mich.“
„War?“
„Sie ist an Ostern gestorben.“
Fröstelnd schlang Aurore die Arme um sich. Sie fühlte sich ihm durch den Schrecken, den sie erlebt hatten, verbunden. „Faustin ist nicht wie ein Vater für Sie?“
„Er ist ein alter Mann. Sein Leben war eine einzige bittere Enttäuschung. Ist Ihr Vater auch vom Leben enttäuscht? Oder ist er einfach nur streng und altmodisch?“
„Mein Vater hat alles – nur nicht das, was er immer wollte.
Er kam bei dem Hurrikan beinahe selbst ums Leben. Er war segeln, als der Sturm losbrach, aber er fand Unterschlupf in einem Pfarrhaus auf der Chénière. Er spricht nie darüber, doch selbst heute noch wird er blass, wenn er das Läuten einer Glocke hört.“
Étienne schwieg. Sie schwieg ebenfalls und dachte an jene Zeit zurück. „Ich sollte gehen“, sagte sie schließlich.
„Werden Sie mir einen Tanz reservieren?“
„Ja. Gerne.“
Sie drehte sich um und machte sich auf den Weg zum Haus der Boudreauxs. Als sie die halbe Strecke zurückgelegt hatte, warf sie einen Blick über die Schulter. Étienne starrte noch immer auf den Bayou hinaus.
Zwischen zwei von Ti’Boos Cousinen sitzend, aß Aurore zu Abend. Die beiden Frauen sorgten dafür, dass sie von allem probierte, bis sie am Ende das Gefühl hatte, dass die Spitzeneinsätze in ihrem Korsett zu reißen drohten. Nach dem Festmahl hörte der Geiger auf zu spielen. Alle Gäste versammelten sich, um einem Onkel des Brautvaters zu lauschen, der die adresse aux mariés sprach, eine liebevolle Rede über die Bedeutung der Ehe. Es gab ein paar versteckte Witze über Jules’ Alter und die Tatsache, dass er die Ansprache eigentlich auch selbst hätte halten können, aber niemand schien daran zu zweifeln, dass Ti’Boo eine gute Partie gemacht hatte.
Die Musik setzte wieder ein. Dieses Mal wurde der Geiger, der ins Haus gegangen war, von seinem Bruder unterstützt. Ein dritter Mann spielte
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