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Bis zur letzten Luge

Bis zur letzten Luge

Titel: Bis zur letzten Luge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richards Emilie
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feuerten nun Salutschüsse in den Himmel.
    Zu Hause waren alle nicht benötigten Möbel an die Wände geschoben worden. So war Platz geschaffen worden für den bal de noce , den traditionellen Hochzeitsball, der später am Abend beginnen würde. Für das Festmahl waren Tische unter die Bäume gestellt worden, und würdige ältere Damen nahmen dahinter ihre Plätze ein, um den Hochzeitsgästen das Essen zu servieren.
    Aurore hatte keinen Hunger. Den ganzen Tag über hattesie Kleinigkeiten probiert, und jetzt hatte sie keinen Appetit mehr. Da das Essen nacheinander serviert werden sollte, war es ihr recht zu warten.
    Zu den schwermütigen Melodien eines einzelnen Geigers trat sie hinaus auf die Veranda. Wie sie es ihrem Vater versprochen hatte, waren die Boudreauxs mit ihr so streng umgegangen wie mit ihren eigenen Töchtern. Man hatte auf sie aufgepasst und sie vor allen kompromittierenden Situationen bewahrt. Ihre Tugendhaftigkeit war gewährleistet; zu Hause würde sie wieder das Leben einer Debütantin leben, und nach außen hin hätte sich scheinbar nichts verändert.
    Aber sie hatte sich verändert. Die Zeit in Ti’Boos Haus hatte Erinnerungen an die Sommertage ihrer Kindheit geweckt. Erinnerungen an warme, duftende Nachmittage bei Krantz, wenn ihre Mutter auf der Veranda gesessen und dabei zugesehen hatte, wie sie mit den anderen Kindern gespielt hatte, die den Sommer auf der Insel verbracht hatten. Sie hatte sich daran erinnert, was es hieß, erwünscht zu sein, Teil einer Gruppe von Menschen zu sein, denen es wichtig war, dass sie glücklich war.
    Gerade passte niemand auf sie auf. Strahlend war Clothilde damit beschäftigt, das Festmahl zu überwachen, und Ti’Boos Tanten standen in einer Reihe hinter den Tischen, um die Gäste zu bedienen.
    Aurore nutzte die Gelegenheit und stahl sich davon, um ein wenig über den Damm zu spazieren. Mit einer Hand hielt sie ihren Rock, mit der anderen ihren Hut fest, als sie nun über die Straße ging, an der die Pferdewagen standen.
    Gänse flogen am abendlichen Himmel entlang, und am anderen Ufer des Bayous stand ein Reiher im Wasser und suchte nach seiner letzten Mahlzeit für diesen Tag. In der Ferne hörte sie das Pfeifen eines Dampfschiffes, das auf dem Bayou unterwegs war. Am nächsten Morgen würde sie die Heimreise antreten. Ti’Boo und ihr frisch angetrauter Ehemannwürden die Nacht im Haus einer Tante verbringen. Am folgenden Morgen würden sie die Papierblüten auf die Gräber der kürzlich verstorbenen Verwandten legen, bevor sie zu Jules’ Haus fuhren. Ti’Boo würde ihr neues Leben beginnen, und Aurore würde in ihr altes zurückkehren.
    In Gedanken versunken bemerkte sie zuerst gar nicht, dass sie nicht mehr allein war. Erst spät sah sie den einsamen Spaziergänger, der ebenso wie sie über den Damm schlenderte.
    „Mademoiselle Le Danois.“
    Der Mann nahm seinen Strohhut ab und machte eine kleine Verbeugung. Etwas erleichtert erkannte sie Étienne Terrebonne.
    „Étienne.“ Sie warf einen Blick über ihre Schulter und stellte fest, dass sie ein ganzes Stück vom Haus der Boudreauxs entfernt war. „Clothilde wird böse auf mich sein, weil ich allein weggegangen bin.“
    „Sie sind ja nicht mehr allein.“
    „Wenn sie das wüsste, wäre sie noch viel wütender.“ „Dann laufen Sie besser schnell zurück, ehe sie es herausfindet.“
    Sie lachte. „Nein, ich denke, im Augenblick bin ich in Sicherheit. Sie ist beschäftigt. Ti’Boo hat heute geheiratet. Wussten Sie das?“
    „Ich bin zum bal de noce eingeladen. Ich bleibe über Nacht bei einem Nachbarn, in dessen Haus ich ein neues Zimmer bauen soll.“
    „Dann sind Sie Zimmermann?“
    „Und Jäger, Fischer, Moospflücker. Ein Cajun. Wissen Sie, was das bedeutet?“
    „Es bedeutet viel Arbeit.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und stellte sich neben ihn, um auf den Bayou hinauszublicken. Ein Gefühl, das mehr als nur Erstaunen war, durchzuckte sie. Sie war sich der Unterschiede bewusst, die sie trennten, doch sie spürte auch unerforschte Gemeinsamkeiten. Sie war sich fast sicher, dass er wusste, wie es sich anfühlte, sich nach etwas zu verzehren, das man nie gehabt hatte. Sie wunderte sich über ihre eigene Sentimentalität. Étienne war ein Fremder, ein Mensch, den sie nach dem heutigen Abend wahrscheinlich nie mehr wiedersehen würde.
    „Ihr Leben in New Orleans muss ganz anders sein“, sagte er.
    „Im Vergleich mit dem Leben hier ist es unglaublich langweilig. Viel formeller.

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